HimmelsAnker Nr. 110 vom 03.04.22

Scherben

Scherben bringen Glück. Das sagt man so, wenn etwas kaputt geht. Sie kennen bestimmt das Sprichwort. Ein Teller fällt runter und zerspringt in tausend Teile. Peng! Scherben bringen Glück. Vielleicht hilft das einfach gegen den Ärger. Glück ist das nämlich nicht: Der Teller ist kaputt und die Scherben muss ich auch noch aufsammeln. Von Glück kann man vielleicht dann reden, wenn der Teller noch dreckig war. Dann spart man sich wenigstens das Spülen. Scherben bringen Glück. 

Wo kommt das eigentlich her? Von einem Aberglauben. Früher hat man gedacht, dass das laute Klirren böse Geister vertreibt. Ähnlich wie beim Knallen zu Silvester. Darum werden beim Polterabend vor der Hochzeit auch so viele Teller, Tassen und Schalen zerschmissen. Damit wünscht man dem Paar Glück für die Ehe! Aber Vorsicht: Glas und Spiegel dürfen dabei nicht zerbrochen werden. Denn das bringt Pech. Zumindest sagt man das so. Das sieht die jüdische Tradition ein bisschen anders. Da wird bei der Hochzeit ein Glas zertreten und man ruft ganz laut „Masel Tov!“ Also „Viel Glück!“ Darum bringen Scherben Glück.

Und danach werden sie entsorgt. Vom Brautpaar weggefegt. Und ab in den Müll. Das braucht nämlich niemand mehr. Was will man auch mit kaputten Tassen, Tellern und Schüsseln? Neue funktionieren doch viel besser. Scherben bringen Glück. Das Glück etwas Neues kaufen zu können.

Jetzt, heute, macht mich dieser Gedanke traurig. Scherben bringen Glück. Denn manchmal fühle ich mich selber wie ein Scherbenhaufen. Zertreten, zerbrochen, am Boden. Kaputt. Von all den großen und kleinen Schicksalsschlägen. Vom Stress und Frust. Vom Klimawandel. Vom Türgriff, der schon wieder abgefallen ist. Vom Drucker, der nicht funktioniert. Von Pandemie. Von Krieg. Von so viel, das mich fertig macht, kaputt macht. Ich funktioniere nicht mehr, ich kann nicht mehr. Ich bin am Boden. Ich weiß gar nicht, wie ich das alles wieder hinkriegen soll. Diesen Scherbenhaufen.
Ich schaffe es nicht, mich damit auseinanderzusetzen, mich wieder zusammenzusetzen. Mir fehlt die Kraft und der Wille. Das braucht doch niemand. Was will man auch mit kaputten Menschen? Mit einem kaputten Ich? Entsorgen, ab in den Müll. Das ist eben der Lauf der Welt. Scherben bringen Glück.

Aber zum Glück läuft die Welt nicht allein. Gott lässt die Welt nicht allein. „Denn ich weiß, was ich mit euch vorhabe.– sagt Gott –Ich habe Pläne des Friedens und nicht des Unheils. Ich will euch Zukunft und Hoffnung schenken.“ Das sagt Gott im Buch Jeremia. Gott hat noch einiges vor mit seiner Schöpfung.
Er lässt sie nicht im Stich. Bei Jesaja kann man lesen: „Als Schöpfer sorge ich dafür, dass die Trauernden Loblieder auf den Lippen haben. Frieden, Frieden den Fernen und den Nahen. Ich will sie heilen, sagt der Herr.“

Wir sind für Gott nicht irgendein zerbrochener Teller, irgendeine kaputte Tasse, irgendeine zersprungene Schüssel. Wir werden nicht einfach weggefegt und entsorgt. Wir kommen nicht auf den Müll.
Scherben bringen Glück. Das heißt bei Gott etwas anderes. Da ist es eher so wie beim japanischen Kintsugi. Kintsugi ist eine japanische Kunst. Kintsugi heißt Goldverbindung. Mit goldenem Leim wird Zerbrochenes wieder ganz gemacht. Teller, Tassen, Scherbenhaufen. Das Zerbrochene ist danach schöner, wertvoller als vorher. Was zerbrochen ist, kann wieder heil werden. Tassen, Teller, Scherbenhaufen, Menschen. Gottes Wort ist goldener Leim. Gott sieht uns als ganze Menschen. Als sein Ebenbild. Auch wenn wir uns nur wie ein Scherbenhaufen fühlen und nicht wissen, wie wir uns jemals wieder zusammenreißen können.

„Denn was wir erkennen, sind nur Bruchstücke“, sagt Paulus im Korintherbrief. „Wenn aber das Vollkommene kommt, vergehen die Bruchstücke. Jetzt erkenne ich nur Bruchstücke. Aber dann werde ich vollständig erkennen,
so wie Gott mich schon jetzt vollständig kennt.“ Gott kennt uns ganz. Und er macht uns wieder ganz. „Was bleibt sind Glaube, Hoffnung, Liebe – diese drei. Doch am größten von ihnen ist die Liebe.“ Das Leben zerbricht uns manchmal.
Auf unterschiedlichste Art und Weise. Jesus hat das durchgemacht: Geschlagen, gedemütigt, getötet. Er kennt den Schmerz, das Zerbrochensein, den Scherbenhaufen. Und er wurde wieder ganz gemacht. Durch Gottes Liebe, die stärker ist als der Tod. Und diese Liebe kommt nicht erst nach dem Tod zu uns. Sie ist schon jetzt mitten unter uns. Sie ist da, wo wir einander aufhelfen, einander Mut machen, einander zuhören. Dann ist die Liebe der goldene Leim, der die Scherben zusammenhält. Manchmal sind wir der Scherbenhaufen, manchmal sind wir der goldene Leim. Aber in allem sind wir nicht allein. Denn Gott sieht uns. Immer.

Amen.