HimmelsAnker Nr. 111 vom 10.04.22

Liebe Gemeinde,

Es ist Palmsonntag. Ein Tag, der irgendwie ganz unterschiedliche Bilder, ganz gegensätzliche Gefühle in mir auslöst. Wie zwei Welten vielleicht. Da ist einerseits das ganz positive, freudige und geradezu festliche Bild, das auch der Evangeliumstext uns zeichnet: Jesus, der auf einem Esel in Jerusalem einreitet. Empfangen mit Palmwedeln, die von der Menge geschwenkt werden, freudige „Hosianna“-Rufe, Jesus als König. Andererseits sind wir nun auch am Ende der Passionszeit angekommen. Die Karwoche beginnt und rund um Palmenwedel und Freude über das Kommen Jesu, liegt eine gewisse Schwere in den Texten. Jesus wird sterben. Seine Zeichen sind getan, die Jünger haben nun verstanden, das Jesus Gottes Sohn ist, so erzählt es das Johannesevangelium. Er hat sich ihnen und der Welt gezeigt, hat Gott in diese Welt gebracht, offenbart kann man sagen. Und so bereitet er sie aber auch sich auf seinen Tod und dessen Folgen vor. Was wird sie erwarten? Was mit ihm geschehen? Mitten in diese Spanne der Gefühle spricht auch der heutige Predigttext:

Johannes 17,1-7

Jesus beendete seine Rede. Danach blickte er zum Himmel auf und sagte: »Vater, die Stunde ist jetzt da! Lass die Herrlichkeit deines Sohnes sichtbar werden, damit der Sohn deine Herrlichkeit sichtbar machen kann. Du hast ihm Macht über alle Menschen gegeben. So kann er allen, die ihm anvertraut sind, das ewige Leben schenken. Darin aber besteht das ewige Leben: dich zu erkennen, den einzig wahren Gott, und den, den du gesandt hast, Jesus Christus. Ich habe auf der Erde deine Herrlichkeit sichtbar gemacht. Denn ich habe das Werk vollendet, das du mir aufgetragen hast. Lass nun an mir die Herrlichkeit wieder sichtbar werden, die ich hatte, als ich bei dir war – bevor die Welt geschaffen wurde. Ich habe dich bei den Menschen bekannt gemacht, die du mir in dieser Welt anvertraut hast. Sie gehörten dir, und du hast sie mir anvertraut. Sie haben sich nach deinem Wort gerichtet. Jetzt wissen sie: Alles, was du mir aufgetragen hast, kommt wirklich von dir.

 

Ich habe mit dem Text so meine Probleme. Es ein starker Text. Jesus betet zu Gott. Ganz laut und offen, sodass alle es hören können. Dabei ist er sicher und weiß ganz genau, was er will. Seinen Teil, den hat er erfüllt. Er hat Gott in der Welt offenbart, so sagt es der Text. Was das heißt? Er hat den Menschen gezeigt, wer Gott ist, was Gott ist und wie sich das anfühlt. Er war mit diesen Menschen unterwegs und hat Spuren von Gott in ihrem Leben hinterlassen. Er hat ihnen gezeigt, wo im Miteinander Gott zu finden ist, auf welche innere Haltung, welche Einstellungen und auf welche Werte es ankommt und sie sich besinnen können. Nun ist seine Zeit gekommen zu Gott zurückzukehren. Also fordert er Gott auf: Du bist am Zug, ich habe meinen Teil erfüllt. Und das finde ich sehr stark. So mutig und souverän zu wissen, was man getan, vielleicht auch geleistet hat, aber auch diese Gewissheit. Jetzt wirst du es machen, Gott! Das ist stark. Und diese Stärke zieht sich durch sein ganzes Gebet, seine Körperhaltung – der Blick in den Himmel. Er spricht Gott direkt an, als würde er ihm in die Augen sehen.

Ich habe mit dem Text so meine Probleme, wenn ich an den Einzug in Jerusalem denke, kommen mir Bilder des Einzugs der Soldat*innen in Butscha in den Sinn. Wenn ich bete, dann schaue ich dabei meist auf den Boden. Meine Hände halten sich gegenseitig, um Halt zu spüren. Manchmal reibe ich sie nervös aneinander. Wenn ich Geflüchteten begegne, die alles zurücklassen mussten, ihre Geschichten höre, mir Berichte ansehe…dann frage ich mich: Wo ist dieser Gott, der mit Jesus in die Welt kam? Wo finde ich den Teil, den Jesus schon erfüllt hat? Und wann ist Gott endlich am Zug? Da ist keine Stärke, oft keine Gewissheit bei mir. Mein Kopf ist gesenkt.

Ich habe mit dem Text so meine Probleme, weil ich Gott in der Welt gerade vermisse und am liebsten würde ich ihn mal so richtig anschreien. Ihn fragen, was das alles soll und wo er ist. Ich hätte gerne Stärke und Gewissheit wie Jesus in seinem Gebet. Ich würde gerne meinen Kopf heben und Gott in die Augen schauen können.

Palmsonntag, das ist ein Tag, der ganz gegensätzliche Gefühle in mir auslöst. Ein Tag, der irgendwie zwischen den Welten steht. Der einerseits von der Macht und Höhe Gottes spricht. Jesus, der souverän und erhobenen Hauptes in Jerusalem einreitet, als König gefeiert. Ein Tag, der andererseits der Beginn der wohl menschlichsten und verletzlichsten Zeit von Jesus ist. Einem Jesus am Kreuz, der Gott anfleht. Einem Jesus in Getsemane, der den Beistand seiner Jünger:innen braucht vor der Stunde seiner Verhaftung. Einem Jesus, der Leid und Tod erfährt.

Wenn ich also versuche meine Probleme mit diesem Text beiseitezulegen, dann frage ich mich, ob da mehr als nur Mut und Souveränität ist. Ob Jesus betet, um sich abzusichern? Um sich zu vergewissern, dass er sich auf Gott verlassen kann? Für sich selbst und auch für seine Jünger:innen. Für alle Menschen in der Welt, die er nun begleitet hat. Und dann bin ich wieder ganz nah bei Jesus. Der Gott in die Augen sieht und fragt: Wirst du da sein? Jetzt und in Zukunft? Wirst du den Menschen, deinen Menschen nah sein? Wirst du bei den Frauen und Kindern sein, die ihre Heimat verlassen mussten? Wirst du bei den Ukrainer:innen sein, die ihr Land verteidigen? Bei den russischen Soldat:innen, die in den Krieg geschickt werden? Gott, wirst du bei all den Verstorbenen sein? Ihren Angehörigen? Und bei uns hier? Denen, die nicht wissen, wie sie helfen können. Mit der Situation umgehen sollen?

Und vielleicht ist auch das eine Botschaft von Palmsonntag. Einem Tag, der zwischen den Welten steht. Dem einen Teil der Welt, in dem Gott sehr deutlich zu spüren ist. In all den Hilfsgütern, die unmittelbar zusammengetragen und verpackt wurden. All den Menschen, die sich auf zur Grenze gemacht haben, um zu helfen. All den Menschen, die sich hier aufgemacht haben, um Unterkünfte aufzutreiben, auszustatten und zu gestalten. Denen, die hier vor Ort ihre Türen öffnen, um Geflüchteten ein zu Hause zu bieten. Denen, die Programme und Projekte auf die Beine stellen, um Perspektive und Unterstützung zu bieten. Aber auch bei denen, die Mitleiden, mit den Schicksalen der Familien und Soldat:innen. In all diesen Momenten, dem Miteinander, dem Helfen, dem Mitfühlen – da ist ganz viel Gott. Da ist Gewissheit und Stärke.

Ich habe mit einer guten Freundin über diese Welten gesprochen und sie hat mir gesagt: „Bei all dem, was es gerade zu ertragen gilt, ist es tröstlich, dass wir einen Gott haben, der sich auch zu den Toten auf die Erde legt.“ Das klingt erstmal plakativ. Auf den ersten Blick. Aber auch voller Hoffnung. Und vielleicht ist das eine Botschaft, die uns der Palmsonntag in diesem Jahr besonders deutlich macht. Einem Tag, der uns diese zwei Welten zeigt. Der Glaube daran, dass Gott in beiden Welten ist. Die Hoffnung, ihn in beiden zu erkennen. Jesus betet für uns: „Das ist aber das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen.“ Das ewige Leben, den Glauben zu haben, dass Gott in der Welt ist, wie auch immer sie aussieht. Das ist etwas, woran wir festhalten dürfen.

An einem Gott, von dem wir in Beziehungen, Gesten und guten Momenten miteinander ganz viel erkennen können. Und an einem Gott, der mit uns im Leid, in Verunsicherung und Traurigkeit ist. An einem Gott, den wir im unerträglichen Teil der Welt vermissen dürfen, ihn suchen und uns seines Beistandes vergewissern müssen. In dem wir uns aber auch zugestehen dürfen, ihn zu sehen, mutig und souverän zu sagen: Da bist du ja! Mutig und souverän den Kopf zu heben und Gott eben doch in die Augen zu schauen: Ich habe dich erkannt! Wir sind nicht allein. Stark und mit Gewissheit.

Amen