1. Mose 16, 1 – 15:
Abrams Frau Sarai hatte keine Kinder bekommen. Sie hatte eine ägyptische Magd, die hieß Hagar. Sarai sagte zu Abram: „Der Herr hat mir Kinder verweigert. Geh doch zu meiner Magd! Vielleicht kann ich durch sie ein Kind bekommen“. Abram hörte auf Sarai. So gab Sarai ihrem Mann Abram ihre ägyptische Mags Hagar zur Nebenfrau. … Er schlief mit Hagar und sie wurde schwanger. Als sie merkte, dass sie schwanger war, sah sie auf ihre Herrin herab. Da sagte Sarai zu Abram: „Mir geschieht Unrecht, und du bist schuld. Ich war es doch, die dir meine Magd gegeben hat. Kaum ist sie schwanger, sieht sie auf mich herab. Der Herr soll zwischen dir und mir entscheiden!“ Abram antwortete Sarai: “Sie ist deine Magd und in deiner Hand. Mach mit ihr, was du für richtig hältst.“
Daraufhin behandelte Sarai ihre Magd so schlecht, dass diese ihr davonlief.
Ein Engel des Herrn fand Hagar an einer Wasserquelle in der Wüste. … Der Engel fragte: „Hagar, du Magd Sarais, wo kommst du her und wo gehst du hin?“
Sie antwortete: „Ich bin auf der Flucht vor meiner Herrin Sarai.“ Da sagte der Engel des Herrn zu ihr: Kehre zu deiner Herrin zurück und ordne dich ihr unter.... Ich werde deine Nachkommen so zahlreich machen, dass man sie nicht zählen kann. … Du bist schwanger und wirst einen Sohn zur Welt bringen. Den sollst du Ismael „Gott hat gehört“ nennen. Denn der Herr hat dich gehört, als du ihm deine Not geklagt hast.“ … Hagar brachte Abrams Sohn zur Welt. Er nannte den Sohn, den Hagar geboren hatte, Ismael.
Hagar, wer bist du?
Über diese Frage hätten damals alle den Kopf geschüttelt. Denn die Antwort war so was von klar. Für alle. Auch für Hagar.
Hagar ist eine ägyptische Sklavin. So weit sie zurückdenken kann, ist sie das Eigentum anderer Menschen gewesen. Eigentlich nur ein Gegenstand. Vielleicht hin und wieder ein Gegenstand von besonderem Wert – ein Wertgegenstand sozusagen. Aber im Grunde doch nur ein Gebrauchsgegenstand. Jemand, den man benutzt. Eine, über die man verfügen kann und die man jederzeit durch eine andere ersetzen kann. Sie steht ganz unten auf der Werteskala.
Nichts gehört ihr: nicht der Becher, aus dem sie trinkt. Nicht die Decke, auf der sie schläft. Nicht das Zelt, das sie mit anderen teilt. Nicht einmal ihr eigener Körper gehört ihr. So hat sie sich zu sehen, so sehen die anderen sie.
Hagar, wer bist du?
Auf diese Frage hätte sie nur eines sagen können: „Ich bin Hagar, die Sklavin. Sklavin von Abraham und Sarah.“ Damit ist alles gesagt. Sie ist eigentlich kein eigener Mensch. Sie wird über andere Menschen definiert, definiert sich selbst über andere Menschen. Es ist erschreckend einfach für sie, die Frage „Wer bin ich?“ zu beantworten. Auch für die anderen ist es einfach zu antworten. Es ist klar, wer Hagar ist. Hagar ist eine Sklavin. Punkt. Mehr ist zu ihr nicht zu sagen!
Dass Hagar so gesehen wird, hilft Sarah, ihr eigenes Problem mit Abraham zu lösen. Denkt sie.
Für Sarah ist es furchtbar belastend, dass ihr Ehe mit Abraham über Jahre hinweg kinderlos bleibt. Sie kämpft mit ihren ganz eigenen Fragen. „Sieht Gott meine Not? Ist Gott egal, was ich durchmache?“
Am Ende löst sie ihr Problem so, wie es damals üblich ist zu ihrer Zeit: Sie nimmt ihre Sklavin Hagar und gibt sie Abraham als Nebenfrau, damit sie stellvertretend für sie schwanger wird. Als Hagar dann tatsächlich von Abraham schwanger wird, stellt sich allerdings heraus, dass diese Lösung doch nicht so genial ist …
Mit Abrahams Baby hat Hagar das erste Mal etwas, was ihre Herrin nicht hat. Und prompt erliegt sie der Versuchung und spielt nun dasselbe Rollenspiel, das vorher mit ihr gespielt worden ist. Das Spiel von Überlegenheit und Unterlegenheit und wie man einander die Macht spüren lässt. „Ich habe was, was du nicht hast. Ich kann etwas, was du nicht kannst.“ Jetzt ist sie die Überlegene, die auf einen anderen Menschen herabsieht, ihn nicht achtet. „Du bist Sarah, die kein Kind kriegen kann. Mehr bist du nicht.“
Die beiden Frauen schaukeln sich gegenseitig hoch. Stolz und verletzt zugleich.
Abraham selbst wird es ungemütlich. Er lässt Hagar vorsichtshalber links liegen und hält sich ansonsten raus. So bekommt er am wenigsten Schwierigkeiten. Hofft er.
Als Hagar im Machtkampf der beiden Frauen dann nur noch gedemütigt wird, flüchtet sie. Sie flieht vor Sarah und davor, wie sie behandelt wird. Sie flieht – und landet in der Wüste. Und „Wüste“ in biblischen Texten bedeutet immer: Schutzlos. Völlig allein.
Ich vermute, dass Hagar in dieser Situation ganz unterschiedliche Stimmen in sich wahrnimmt. Eine Stimme rät ihr dazu, aufzugeben und klein beizugeben. Eine andere wehrt sich kämpferisch gegen das Unrecht, das ihr geschieht. Eine andere fragt voller Sorge, was aus ihr und dem ungeborenen Kind werden soll. Eine andere Stimme ist verstummt, weil sie schlicht keine Kraft mehr hat und viel zu erschöpft ist.
Hagar in der Wüste – das heißt: Sie erlebt eine der härtesten Durststrecken ihres Lebens. Was soll werden? Sie findet keine Antworten, keine Lösung.
Ob sie in all dem Gott gesucht hat? Keine Ahnung. Gott findet sie. Der – wie es heißt: der Engel des Herrn, Gott selbst. Gott bleibt nicht außen vor. Gott verlässt nicht – auch nicht in „Wüsten-Zeiten“.
Die biblische Geschichte erzählt uns: Gott achtet Hagar, die ägyptische Sklavin, die stolze und verletzliche Frau, die geflüchtete Frau. Gott sieht die, die nicht angesehen ist und sich doch genau danach sehnt. Gott hört den Stoßseufzer, der keine Worte mehr findet. Gott ist da. Auch für eine Frau wie Hagar.
Gott fragt sie: „Hagar, Sarahs Magd, wo kommst du her, und wo willst du hin?“
Gott ist auch in der Wüste. Das allein könnte man schon als etwas Ungewöhnliches empfinden. Gott ist nicht nur an besonderen, ehrwürdigen Orten bei mir. Gott ist auch dort, wo ich trostlos bin. Wo ich restlos bedient bin, zu müde zum Jammern, zum Beten, zu allem. Gott ist in der Wüste und sucht und findet Menschen, die gerade zusammengeklappt sind. Gott spricht Hagar an. Mit ihrem Namen und mit ihrem ganzen Ballast, mit dem ganzen Elend, das sie mit sich herumträgt. „Hagar, Sarahs Magd, du bist es wert, dass ich dich anspreche. So sehe ich dich. Du bist ein Mensch, mein Menschenkind. So stehst du vor mir – als freies Menschenkind. Du kannst mich ansprechen und ich spreche dich an. Du erlebst etwas, und ich erlebe es mit dir. Du bist nicht allein gelassen. Ich bin hier. Ich sehe, wie es um dich steht. Ich frage nach dir. Ich frage dich.“
Zwei Fragen.
Frage eins: „Wo kommst du her?“
Das kann Hagar leicht beantworten. Nicht leichten Herzens, aber sie kann antworten. „Ich bin von Sarah, meiner Herrin, geflohen.“ Das ist meine Erfahrung. Das ist das, was ich mitbringe. Ich wollte es hinter mir lassen, aber ich trage es noch mit mir herum.“
Frage zwei: „Und wo willst du hin?“
Das kann Hagar nicht beantworten. Sie weiß es schlicht nicht. Sie weiß nicht, wohin mit sich und ihrem ungeborenen Kind. Sie weiß nicht, wohin mit ihrem Ärger und all dem, was sie fertig macht. Ist nicht eh die ganze Situation verfahren? Kommt da noch mal Bewegung rein? Geht da noch was?
Und Hagar erfährt: Da geht tatsächlich noch was. Gott bewegt Kleinstes und Größtes. Einen Auftrag gibt Gott ihr: Zurückzukehren aus der Wüste, zurückzukehren in die Situation, aus der sie geflohen ist. Das wird sicher kein leichter Weg. Aber es ist ein Weg, um heraus zu kommen aus den „Wüsten-Zeiten“. Ein Auftrag und eine Zukunftsperspektive: Du hast nicht nur eine Vergangenheit. Du hast auch eine Zukunft.
Du und dein Kind. Denn Gottes Liebe umfängt auch dich – dich und dein Kind.
Ismael soll sie ihren Jungen nennen. Auf Deutsch: Gott hat erhört. Immer wenn Hagar den Namen ihres Sohnes aussprechen wird, soll sie sich erinnern: Gott ist auch bei ihr, Gott umgibt auch sie, Gott hat sie erhört.
„Gott wird dir und Ismael nicht jeden Stein aus dem Weg räumen. Beileibe nicht. Aber Gott ist jetzt da. Und der Segen Gottes wird dich begleiten.“
Hagar hört es und staunt: „Mit mir redest du? Du? Mit mir? Du fragst nach mir, du segnest mich? Was bist du für ein Gott?“
Hagar erlebt, was das für ein Gott ist. „Du bist etwas Göttliches, das mich sieht. So erlebe ich dich. So habe ich dich erfahren. Das will ich mir merken. Das will ich glauben.“
Als Ägypterin ist sie wahrscheinlich davon ausgegangen, dass es eine ganze Menge Götter gibt, die allerdings vorzugsweise mit sich selbst beschäftigt sind. Das Göttliche, das sie in der Wüste gefunden hat, ist anders. Sie hört und erlebt: „Für Gott bin ich mehr. Gott schaut nach mir. Gott verliert mich nicht aus den Augen. Keine Ahnung, worauf das hinausläuft und wie alles werden wird. Aber wenn Gott dabei ist, dann kann ich einen Fuß vor den anderen setzen. Mit Gott kann ich aufbrechen, Schritt für Schritt.“
Die Rahmenbedingungen haben sich für Hagar dadurch nicht geändert.
Sie ist zurückgegangen zu Sarah. Die Beziehung zwischen den beiden Frauen ist weiterhin kompliziert geblieben. Erst recht, als Ismael geboren war. Und erst recht, als Sarah selbst dann noch einen eigenen Sohn bekommen hat. Hagar allerdings hatte etwas erlebt, was sie nicht mehr vergessen konnte: „Gott nimmt mich wahr. Was für ein Segen!“
Das hat sie berührt, das hat ihr Kraft gegeben.
Einen Brunnen hat sie nach ihm benannt. Vielleicht, damit auch andere darauf aufmerksam werden können: Gott nimmt wahr. Selbst wenn wir in der Wüste sind. Gott verleiht Kraft, Hoffnung und Mut, weiterzugehen. Denn morgen und übermorgen wird Gott auch da sein. Gott sieht mich.