Neulich im Urlaub:
Ein Autofahrer wartet an einer geschlossenen Schranke. Hinter ihm stauen sich andere Fahrzeuge. Da kommt ein Radfahrer, fährt rechts zügig an der wartenden Schlange vorbei und stellt sich neben das erste Fahrzeug.
A: Hey, können Sie sich nicht hinten anstellen und da warten?
R: Wahrscheinlich wissen Sie es nicht, deshalb erkläre ich es Ihnen gerne: Radfahrer dürfen an wartenden Fahrzeugen mit mäßiger Geschwindigkeit und besonderer Vorsicht auch rechts überholen. So steht es in der Straßenverkehrsordnung.
A: Von wegen mäßige Geschwindigkeit und besondere Vorsicht. Sie sind wie ein Rambo-Radler mit einem Affenzahn vor mir her mitten auf der Straße gefahren. Deswegen konnte ich Sie vorhin nicht überholen und muss nun hier vor der Schranke warten. Aber das ist Typen wie Ihnen ja egal. Sie rasen bestimmt mit Tempo 50 auch durch die Fußgängerzonen und fahren Omas um.
R: Wer fährt hier wohl wen platt? Doch wohl eher Sie mit Ihrem SUV-Panzer. Ich fahre immer mit anderthalb Meter Abstand zum rechten Fahrbahnrand, damit ich nicht gegen eine sich öffnende Autotüren knalle, die so ein Idiot wie Sie ohne in den Spiegel zu sehen öffnet.
A: Auf jeden Fall versperren Sie mit Ihrer Fahrweise mir den Weg. Und genauso schlimm sind diese Gassi-Radler, die mit ihrer Töle unterwegs sind. Der Hund zieht nach rechts, der Gassi-Radler nach links, da sind verkehrsgefährdende Schlangenlinien vorprogrammiert. Oder die Tussi-Radlerinnen, Typ „Beste Freundinnen unterhalten sich“. Hauptsache nebeneinander fahren und sich auch durch Hupen nicht stören lassen.
R: Na, Sie müssen es ja wissen. Sie verpesten hier die Umwelt. Bisher haben Sie Ihren Motor nicht abgestellt. Haben Sie für Ihren Diesel überhaupt einen Waffenschein? Und Ihr Wagen, dieser rollende Gefängniskäfig, nimmt in der Stadt so viel Platz weg, da könnten locker fünf Fahrräder parken. Apropos parken, vorrangig parken Sie ja auf Radwegen.
A: Ja, da war ich nur mal kurz beim Bäcker. Und als ich wiederkomme, war eine dicke Schramme an der Beifahrertür. Und so ein Kampfradler zeigt mir den Stinkefinger.
R: Lieber eine Schramme am Auto als eine Delle am Kopf. 400 Radfahrer sterben jedes Jahr bei Autounfällen. Und auch deshalb, weil solche Typen wie Sie mit dem Auto unterwegs sind.
A: Sie riskieren gleich auch Ihre Gesundheit, wenn Sie mir kriminelles Verhalten unterstellen.
R: Na, dann komm doch raus aus deiner Konservenbüchse, wenn du dich traust.
A: Also gleich kannst du was erleben, du …
Eine Fußgängerin: Hey, ihr beiden! Jetzt ist aber mal gut! Die Schranke ist schon seit ´ner Minute oben! Hört ihr das Hupkonzert nicht? Regt euch mal ab und schaltet einfach mal einen Gang runter!
Einfach mal einen Gang runterschalten.
Die beiden Streithähne sind dann einfach weitergefahren.
Ich habe hier nichts überspitzt dargestellt.
Und ich habe eine Vermutung: Der Straßenverkehr ist nicht nur ein Abbild unserer gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Straße ist gleichzeitig eines der letzten Biotope für archaische Verhaltensweisen trotz aller Regeln. Man sitzt in der fahrbaren Höhle und wird leicht wieder zum Neandertaler, der seine primitiven Affekte wie Rivalität und Aggression auszuleben versucht.
Wenn ein Autofahrer die Radfahrerin hindern möchte, an ihm vorbei zu fahren, ist er neidisch auf ihre Bewegungsfreiheit mit dem Rad. Wenn der Radfahrer gestresst ist, rächt er sich und haut auf das Autodach oder schreit den nächsten Fußgänger zusammen. Wobei wir nie vergessen dürfen: Menschen auf dem Rad sind immer die Schwächeren und Unterlegenen im Vergleich mit Autos. Das zeigt auf bittere Weise die Unfallstatistik über Radfahrende, die bei Zusammenstößen mit Autos ums Leben gekommen sind.
Das Paradoxe ist nun, dass die meisten von uns beide Rollen kennen! Die im Auto und die auf dem Fahrrad! Man schlüpft vollständig in die andere Haut, wenn man vom Auto aufs Fahrrad umsteigt oder umgekehrt.
Das ist aber nicht nur eine Problemanzeige, sondern zugleich auch die Lösung! Denn die heißt: Gegenseitige Empathie, also Einfühlungsvermögen von beiden Seiten. Man kann sich in die Nöte eines Autofahrers einfühlen, der auf dem Radweg parkt und denkt: jetzt hat der arme Kerl wieder keinen Parkplatz gefunden. Ist mir hier auch schon passiert.
Oder man kann sich als Autofahrer in die Radfahrerin hineindenken: Die Arme, sie ist nicht nur Wind und Wetter ausgesetzt, sondern ein Sturz bei diesem Wetter hätte auch noch üble Folgen.
Empathie bedeutet: Die Welt mit den Augen der anderen zu sehen. In Gedanken ganz gelassen einen Gang runterzuschalten.
Im alttestamentlichen Buch der Sprichwörter steht:
Geduld haben ist besser, als ein Kriegsheld zu sein.
Sich beherrschen ist besser, als Städte zu erobern.
Jesus nennt später nicht nur die Gebote der Nächsten- und Feindesliebe. Er zitiert auch die sogenannte goldene Regel:
Behandelt andere Menschen genau so, wie ihr selbst behandelt werden wollt.
Es gibt ein Rad, das ich gar nicht gerne fahre und den meisten Leuten geht es da genauso wir mir. Ich rede vom Hamsterrad.
Ich habe das Gefühl, dass sich das Hamsterrad in unserer Zeit immer mehr beschleunigt und man kommt doch nicht von der Stelle. Rasender Stillstand! Die Tage sind vollgestopft mit Terminen. Überall Hektik. Das Tempo des Lebens nimmt immer mehr zu. Und diesen Eindruck haben längst nicht nur die Berufstätigen.
Für viele von uns sind die kommenden Wochen Urlaubszeiten. Sie sollen der Regeneration dienen. Offline sein, Ruhezeiten pflegen, Muße haben.
Die Bibel erzählt uns: Auch Gott brauchte Ruhe am siebten Tag. Und wenn Jesus mal den Kopf frei haben wollte, zog er sich zurück – etwa auf einen Berg oder fuhr auf einen See hinaus.
Ich wünsche mir echt, wir können in den nächsten Wochen das Hamsterrad stillstehen lassen. Steigen wir aus und steigen wir aufs Fahrrad um. Vielleicht entschleunigt es uns. Vielleicht sehen wir die Welt um uns herum dabei mit anderen Augen. Freier. Gelassener. Unbeschwerter. Und wenn wir auf dem Fahrrad sitzen, dann das kleine Kettenblatt wählen. Einfach mal einen Gang runterschalten.