Gott sprach zu Abram:
Verlasse dein Land, deinen Geburtsort und das Haus deines Vaters und gehe in das Land, das ich dir zeigen werde. Und ich will dich zu einem großen Volk machen und ich will dich segnen und dir einen großen Namen machen und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen; und verfluchen, die dich verfluchen. Und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden. Da zog Abram aus, wie Gott zu ihm gesagt hatte. Und er war 75 Jahre alt, als er aus Haran wegzog.
Diese Wörter haben einen Platz unter den folgenreichsten Sätzen in der Geschichte der Menschheit. Denn sie erzählen vom Ursprung der drei Abrahamitischen Religionen: Judentum, Christentum und Isalm.
Aber dieser Abram passt so gar nicht in das Bild eines Religionsbegründers, eines Religions-Helden: Er ist kein letzter Überlebender einer Welt, die in ihr eigenes Verderben rast wie Noah. Er ist auch kein Befreier aus der Sklaverei und Überbringer göttlicher Gebote wie Mose; niemand, der sich wie dieser mit Pharaonen oder anderen Zeitgenossen anlegt und den Mächtigen die Wahrheit sagt.
Abram ist ein Mann mit vorbildlicher Tugend. Er heißt Fremde willkommen und gibt ihnen zu essen. Er rettet das Leben seines Neffen Lot. Er betet für die Stadt Sodom in einem der großartigsten Dialoge religiöser Literatur.
Abram wartet geduldig auf ein erstes Kind, um es dann allen Ernstes als Opfer wieder herzugeben. Und das alles um zu erfahren, dass Gott nicht will, dass wir unsere Kinder irgendwelchen Idealen opfern, sondern sie lieben und für sie da sein sollen.
Wenn wir Abram mit Adjektiven beschreiben sollten, dann fällt mir z.B. sanftmütig ein, oder gütig und barmherzig – nicht unbedingt die Wörter, die den Gründer eines neuen Glaubens an Gott beschreiben.
Mir fällt auf: Niemand von uns kann ein Abram sein; aber wir alle können ihn uns als Vorbild nehmen. Das ist vielleicht die tiefste Erkenntnis aller biblischen Geschichten um Abram.
Abram schafft irgendwie ein ganz neues Heldentum, wird ein Held der ganz anderen Art:
Ein Held des gewöhnlichen Lebens, ein Held mit Anstand und Güte, ein Held der Rechtschaffenheit und Ergebenheit; bescheiden und willig, den eigenen Überzeugungen zu folgen, obwohl alle anderen etwas anderes möchten; ein Held, der auf das Rufen Gottes hört und nicht auf den Lärm um ihn herum.
In der jüdischen Auslegungstradition mit ihren vielen unterschiedlichen Schulen werden die hebräischen Sätze dieses Textes hin und her gedreht – die hebräischen Wörter, die ja ohne Vokale aufgeschrieben werden – können ja mehrere Bedeutungen haben, die sich dann erst aus dem Sinnzusammenhang ergeben.
Auch ich habe mir für heute einen Satz mal ganz genau angeschaut.
„Abram war 75 Jahre alt, als er aus Haran wegzog.“
Ich weiß schon, dass die Altersangaben in der Bibel mit großer Vorsicht zu genießen sind – sie haben eben oft eine symbolische Aussagekraft.
Aber mir gefällt der Gedanke trotzdem, dass Abram und andere wichtige Hauptfiguren wichtige Situationen in einem für uns fortgeschrittenen Alter erleben. Ja, ich finde es bemerkenswert, dass biblische Erzählungen auch ältere Menschen in den Mittelpunkt von Aufbruchsgeschichten stellen. Nicht nur jungen Menschen mutet Gott Neuanfänge mitten im Alltag zu.
Ich lese diesen biblischen Vers über das Alter Abrams heute in einer Zeit, die von großen Spannungen zwischen den Generationen geprägt ist.
Die Jungen werfen den Alten vor, sich früher nicht genug um unsere Umwelt gekümmert zu haben und ihnen nun die Katastrophe des Klimawandels zu vererben.
Die Alten werfen den Jungen vor, es mit ihren „Friday-for-future“-Protesten nur so lange ernst zu meinen, bis sie selber von Einschränkungen betroffen sind. Ich könnte auch den Anfang der Corona-Pandemie nennen. Da ging es um die Frage, wie alte und junge Menschen Rücksicht aufeinander nehmen sollten. Die Alten befürchteten den Verlust ihres Lebens. Die Jungen befürchteten den Verlust einer einzigartigen Lebenszeit. Beide hatten recht. Einfach aufzulösen sind die Spannungen zwischen den Generationen nicht.
Vielleicht bin ich gerade deshalb am Alter Abrams hängen geblieben.
„Abram aber war 75 Jahre alt, als er aus Haran auszog.“
Ich lese diese Worte auch als Herausforderung sowohl an alte Menschen als auch an junge Leute. Ältere Semester dürfen sich von Abrams Aufbruchstimmung herausgefordert fühlen. Das Alter muss nicht die Zeit des Rückzugs sein, in dem man sich auf alten Meinungen und Gewohnheiten ausruht.
Abram könnte mit Gott darüber diskutieren und bestimmt viele Gründe benennen, warum er nicht mehr der Richtige ist für dieses wichtige Zukunftsprojekt. Doch das tut Abram nicht. Er lässt sich auf einen neuen Weg senden, von dem er nicht wissen kann wo und wie dieser endet. Ich denke, ihn leitet viel mehr die Aussicht, von Gott in seinem Alter noch mit Kindern gesegnet zu werden. Und nicht nur das: Er soll der Urahn vieler Völker werden.
Und damit gilt dieser Segen auch den alten Menschen unserer Tage. Ich denke an die betagten Männer und Frauen, die nicht nach dem Motto leben „Nach uns die Sintflut“.
Es gibt viele Ältere, die ihre Gewohnheiten umstellen, um damit dem Klimawandel entgegen zu treten. Ich denke an die Gruppe „Omas gegen Rechts“, die bei Fridays for Future Seite an Seite mit Schülerinnen und Studenten demonstrieren. Opa Abram hätte vermutlich viel Freude an ihnen.
Abram aber war 75 Jahre alt, als er aus Haran auszog.
Junge Menschen werden durch diese Worte daran erinnert, „die Alten“ nicht abzuschreiben und sie nicht in Generations- Schubladen zu stecken. Ich kenne betagte Menschen, die voller kreativer Ideen stecken und ich kenne junge Menschen, die schon sehr festgefahren sind in ihren Ansichten. Möge Abrams Geschichte sie und uns alle zu Neuanfängen ermutigen.