Ansprache zum 110jährigen Gedenken der Schlagwetterexplosion auf Zeche Lothringen
In der Zeit des Aufblühens des Kohlebergbaus bricht über der Zeche Lothringen ein schweres Bergmannsgeschick herein. Um 9.20 Uhr zeigt der Depressionsmesser an, dass eine Schlagwetterexplosion stattgefunden hat. Um 9.30 Uhr steigen aus dem Schacht II dunkelbraune Rauchschwaden. Bereits anderthalb Stunden später werden die ersten toten und verletzten Bergleute geborgen.
Am Montag, dem 12. August 1912 werden 99 Bergleute unter großer Teilnahme der Gerther, Hiltroper und Bochumer Bevölkerung auf dem Gerther Friedhof beigesetzt. 300.000 Menschen verfolgen den Trauerzug. An der Trauerfeier auf dem Friedhof nehmen 15.000 Menschen teil. Die übrigen Toten werden in ihren Heimatgemeinden beigesetzt.
Wir können uns heute nur schwer vorstellen, welche erschütternden Szenen sich an den Toren der Zeche und auf den Straßen Gerthes und Hiltrops vor 110 Jahren abgespielt haben.
Die unglaublich hohe Zahl aller Teilnehmenden am Trauerzug und auf dem Friedhof hier in Gerthe zeugt vom Ausmaß der Betroffenheit.
Die Erinnerung an die gestorbenen Kumpel von damals ist längst verblasst; die betroffenen Familien haben sich in viele andere Generationen verzweigt.
Die Toten von damals waren Männer unserer Region. Sie waren Männer aus Gerthe und Hiltrop und anderen Ortschaften. Sie waren Männer des Ruhrgebiets. Sie waren Bergleute. Sie waren Kumpel unter Tage.
Der Bergbau, seine Zechen und all die dort Beschäftigten gehören zu den Bildern dieser Region.
Die Zechen sind längst verschwunden. Die Bedeutung des Bergbaus schwindet auch, aber diese Bilder haben ihre Wirkung bis heute nicht eingebüßt. Es gäbe Gerthe und Hiltrop, es gäbe Bochum, es gäbe das Ruhrgebiet nicht so, wie es heute ist, wenn es den Bergbau nicht gegeben hätte.
Ja, es stimmt: Diese Gedanken sind nicht neu und sie werden zu jedem feierlichen Anlass, an jedem wichtigen Tag eines Gedenkens wiederholt. Und das ist richtig so. Das Gedenken zieht eine durchgehende Linie von damals bis in unsere Gegenwart. Es schafft eine Verbundenheit zu denen, die ihren Teil dazu beigetragen haben, die Bedingungen unseres Lebens heute hier vor Ort zu ermöglichen. Deswegen das Gedenken. Deswegen das Erinnern.
Und deswegen auch die Beteiligung von Kirche am Tag des Gedenkens.
Religion, Kirche, Glaube an Gott ermöglicht Zeiten und Räume der Erinnerung. In jedem Gottesdienst, zu jeder Gelegenheit, egal an welchem Ort: Immer dann, wenn biblische Texte zur Sprache kommen. Ohne Erinnerungen geht es nicht! Und die ganze Bibel ist ein Buch der Erinnerungen. Für uns Heutigen deutet die Bibel mit ihren Erinnerungen unsere Gegenwart.
Das ist keinesfalls rückwärtsgewandt oder ewig gestrig. Das ist verantwortungsbewusst!
Biblische Texte erzählen von Erfahrungen, die Menschen in der Vergangenheit gemacht haben. Sie erzählen von Erfahrungen, mit denen Menschen in ihrem Leben konfrontiert wurden. Sie erzählen uns von Lebenserfahrungen. Aber es wären nicht biblische Texte, wenn sie in diesen menschlichen Lebenserfahrungen nicht eine religiöse Dimension entdecken würden. Denn das ist das Besondere an biblischen Erinnerungen: Sie deuten menschliches Leben religiös, sie erkennen eine religiöse Dimension der menschlichen Erfahrungen. Sie bringen menschliches Leben mit Gott, mit dem Göttlichen in Verbindung.
Was heißt das für uns heute am Tag der Erinnerung der schrecklichen Schlagwetterexplosion auf Zeche Lothringen?
Biblische Texte erinnern uns heute daran, dass dieses schreckliche Ereignis in einer Reihe von Ereignissen steht, vor denen wir uns nicht wirklich schützen können. Unser menschliches Dasein ist vor Unglücken nicht geschützt. Unglücke können passieren – egal wir rechtschaffen Menschen sind – siehe Noah. Unglücke können passieren – egal wie fromm Menschen sind – siehe Hiob. Unglücke können passieren – es gibt Beispiele genug in der Bibel, es gibt unzählige Beispiele in der Geschichte unserer Region, in der Geschichte Deutschlands, in der Geschichte Europas, in der Geschichte der Welt von Anbeginn an.
Menschliches Leben ist bunt – so hören wir es manchmal und beschreiben damit seine unglaubliche Vielfalt. Und manchmal ist Leben eben auch schwarz vor Trauer und Schmerz und rot vor Wut und Verzweiflung über das, was nicht abzuwenden war.
In diesem Bewusstsein betrauern wir heute nicht nur den Tod der Bergleute, die am 8.8.1912 ihr Leben lassen mussten.
Mit diesem Tod trauern wir gleichzeitig um all die Menschen, die Frauen und Männer und Kinder, die Opfer von Unglücken, Katastrophen und Schicksalsschlägen wurden, sind und werden – auf der ganzen Welt: Opfer gewaltsamer und kriegerischer Auseinandersetzungen, Opfer von Naturkatastrophen, Opfer menschlichen Versagens, Opfer des Vordringens menschlicher Zivilisation in bisher unberührte Natur – und dazu zählen ja – wie wir gerade leidvoll erfahren - gegenwärtig auch Pandemien.
Biblische Texte deuten diese Lebenserfahrungen in mindestens zweifacher Weise:
Erstens: Leben ist widersprüchlich. Immer wieder. Aber das Göttliche, das will, das wir leben, schenkt uns auch immer wieder die Kraft, diese Widersprüche auszuhalten.
Zweitens: Leben ist nicht sinnlos! Welches Ende Menschen auch erleben: In dem, was wir „Gott“ nennen, findet es sein Ziel. Es fällt nicht in eine Tiefe ohne Grund, sondern - bildlich gesprochen – in die Hand Gottes. In Gott, in der göttlichen Dimension unseres Leben, werden wir alle am Ende aufgehoben sein.
So, wie die Bergleute, die am 8.8.1912 viel zu früh durch eine Schlagwetterexplosion aus dem Leben und aus ihren Familien gerissen wurden.
Auch sie leben weiter in Gott – bis in alle Ewigkeit.