HimmelsAnker Nr. 83 vom 26.09.21

Bundestagswahl 2021

Im 1. Thessalonicher-Brief wird uns der Ratschlag gegeben: Prüft alles – und das Gute behaltet (Thess 5,21).
Ja – als wenn das immer so einfach wäre.
Heute ist Wahlsonntag.
Was ist denn da gut – und was ist schlecht? Wie wählen wir „gut“?
Und was wäre schlecht?

Erlauben Sie mir, Ihnen dazu ein paar Gedanken mitzuteilen.
Was macht eigentlich eine gute Wahl aus?
Es sind meine persönlichen, überparteilichen Aspekte auf dem Hintergrund meiner Erfahrungen – meiner Erfahrungen eben auch als Theologe und Gemeindepfarrer.
Ich habe meinen Gedanken eine gewisse Struktur gegeben: D.h. ich entwickle sie entlang der Buchstaben des Wortes WAHL – also W-A-H-L.
In der Sprachwissenschaft nennt man solch eine Vorgehensweise ein „Akronym“.
 
Eine kleine Freiheit nehme ich mir doch heraus:
Da wir heute bei der Bundestagswahl eine Erst- und Zweitstimme haben, erlaube ich mir, zu jedem Buchstaben des Wortes WAHL zwei Aspekte zu erläutern.

Also – fangen wir an:

W wie Wahrheit
Bei jeder Wahl sollte es um die Wahrheit gehen. Politikerinnen und Politiker, aber auch die Medien, sollten uns die Wahrheit sagen.
Ich empfinde es als beinahe beschämend, eine solche Selbstverständlichkeit erwähnen zu müssen – weil sie nicht mehr selbstverständlich ist.
Den Begriff „fake news“ kennen wir heute wahrscheinlich fast alle. Dahinter steht die Erfahrung, dass wir nicht mehr alles, was gesagt und geschrieben wird, unbenommen glauben können. Die vermeintliche Wahrheit wird zu einer Waffe im Wahlkampf, die der einen Seite nützen soll und der anderen schaden.
Das Gebot: „Du sollst nicht falsch Zeugnis zum Schaden deiner Mitmenschen reden“ hat keinen hohen Stellenwert mehr. Und dass Politikerinnen und Politiker vor einer Wahl vieles versprechen und nachher wenig davon halten, wird als unausweichliche Gesetzmäßigkeit hingenommen. Ich mag das so nicht akzeptieren.
Doch Wahrheit ist keine Einbahnstraße. Zu ihr gehört auch meine Bereitschaft, unangenehme Wahrheiten zu akzeptieren. Ansonsten hätte ich für den Buchstaben W auch das Wort „Wunschkonzert“ aussuchen können.

Stattdessen steht mein zweites W für Wut.
Sorgen machen mir die Leute, die heute nicht wählen gehen.
Noch mehr Sorgen bereiten mir aber diejenigen, die heute mit der Faust in der Tasche wählen.
In den Umfragen der letzten Tage haben sie oft noch „ich weiß nicht“ gesagt, in der Wahlkabine setzen sie ihre Kreuze radikal und zeigen es „denen da oben“ mal so richtig.
Am Wahlabend können sie womöglich klammheimliche Freude nicht verhehlen und Monate oder Jahre später will es dann keiner mehr gewesen sein. Wem hilft das? Noch nicht einmal ihnen selbst.
Gut – die Wut hatte somit mal ein Ventil. Das hat man aber auch, wenn man mal feste gegen einen Pfosten tritt oder im Wald laut schreit. Eine Wahl ist kein guter Ort für gedankenloses „Sich-Befreien“. Bei Wahlen geht es um Überlegung, um Abwägen von Vernunft und Gefühl. Sich zu sorgen ist manchmal vernünftig, sich wütend von der Sorge befreien zu wollen ist es nicht. „Es denen da oben mal zeigen“ ersetzt kein Nachdenken.
Wutwählen ist, als wolle man sich in einem Rausch vergessen machen – um den Preis eines bösen Erwachens.


Kommen wir zum A.
Auch Angst ist kein guter Ratgeber. Parteien, deren Wahlkampf mehr oder weniger auf Angst aufgebaut ist, disqualifizieren sich in meinen Augen allein dadurch.
Ein solcher Wahlkampf ist für mich lediglich Ausdruck der eigenen Ideenlosigkeit.
Menschen, die immer nur sagen, wogegen sie sind und was sie alles nicht wollen, helfen nicht weiter. Das gilt ja nicht nur in der Politik, sondern in allen gesellschaftlichen Bereichen – auch in der Kirchengemeinde. Auch ich erlebe das leider zu oft.
Sätze sollten nie mit „Aber“ anfangen. Menschen bei ihren Ängsten anzusprechen, ist feige und suggeriert, man selbst sei im Besitz der einzigen Wahrheit.

Doch Wahlen bedeuten – und damit bin ich beim vierten Gedanken:
A wie Alternativen.

Wer von sich behauptet, seine Politik sei alternativlos, hat das Wesen der Demokratie nicht verstanden. Denn dann könnte man Wahlen auch abschaffen gemäß dem Sponti-Spruch: „Wenn Wahlen etwas verändern würden, wären sie verboten“.

Ich glaube das so nicht.
Es gibt immer mehrere Wege in die Zukunft. Und über den besten Weg leidenschaftlich, sachorientiert und fair zu streiten, ist die Seele der Demokratie.
Und nicht, dass ich falsch verstanden werde: Mit „A für Alternative“ distanziere ich mich vehement von dieser Partei, die dieses Wort im Namen verwendet.

Der dritte Buchstabe:
H wie Herrschaft.
Heute wählen wir unsere Herrscherinnen und Herrscher. Klingt schräg – oder?
Fakt ist aber, dass der Bundestag im Besitz der gesetzgebenden Gewalt ist. Die aus seinen Reihen gewählte Regierung hat die ausführende Gewalt. Legislative und Exekutive sind klassische Kennzeichen einer Herrschaft.
Zum Glück aber ist diese Herrschaft auch durch unsere Grundrechte eingeschränkt und sie ist ja von uns gewählt und beruht nicht – wie früher – auf Familienzugehörigkeit oder - wie heute noch in Diktaturen - auf Gewalt.
Seine Herrschaft selbst wählen zu können, ist geschichtlich betrachtet und im Blick auf die aktuelle Weltlage keine Selbstverständlichkeit. Das ist ein Privileg.
Mit diesem Privileg verbindet sich allerdings eine Verpflichtung: Zur wählen!
Wenn an einem Wahlabend die Partei der Nichtwähler die größte ist oder wenn es heißt, das gute oder schlechte Wetter habe die Wahl beeinflusst, sträuben sich mir die Nackenhaare. Solch eine Missachtung demokratischer Freiheiten, für die in anderen Ländern Menschen im Gefängnis sitzen oder sogar sterben, bleibt mir unverständlich.

Ich komme zu den beiden letzten Gedanken, die mit dem Buchstaben L beginnen.
Ich als Mensch, der an das Göttliche glaubt, betrachte meine Wahlentscheidung immer auch im Vertrauen auf dieses Göttliche, das nichts als Liebe ist.

Also: L wie Liebe!

„Was hat denn jetzt Liebe mit Politik zu tun?“, mögen Sie sich jetzt fragen.
Wenn das so sein sollte, erlaube ich mir eine Gegenfrage: Können Sie sich verantwortungsvolle Politik ohne Liebe vorstellen?
Ohne die Liebe zu den Menschen, zum Land, zur Heimat? Zur Umwelt, in der wir alle leben? Sich dafür einzusetzen, dass auch die Schwächeren zu ihrem Recht kommen,
sich zu engagieren für Freiheit, für friedliche Konfliktlösungen, für Gerechtigkeit, für eine Zukunft für unsere Kinder und Kindeskinder auf dieser Erde – das alles sind doch Zeichen einer Liebe, die sich nicht nur in Romantik erschöpft, sondern auch Verantwortung wahrnimmt.
Es mag vielleicht eine Politik ohne Liebe geben – doch möge Gott uns davor behüten, dass mit solcher Politik regiert wird.

Und weil Politikerinnen und Politiker sich für ihre Mitmenschen einsetzen, lautet mein letzter Gedanke:

L wie Lob.
Meiner Ansicht nach verdienen alle, die sich um ein politisches Amt bewerben, ein großes Lob. Sie machen eine Arbeit, die ich nicht machen kann oder nicht machen möchte – die aber notwendig ist.
Der Vorwurf, sie würden alle nur in die eigene Tasche wirtschaften, ist mit Vorsicht auszusprechen. Er vergisst all diejenigen, die sich auf kommunaler Ebene weitgehend ehrenamtlich in ihrer Freizeit engagieren. Auch auf Landes- und Bundesebene trifft dieser Vorwurf wahrscheinlich nur wenige.
Für die zu tragende Verantwortung, die Komplexität vieler Aufgaben und den manchmal weitgehenden Verzicht auf Freizeit und Privatleben verdienen die Politikerinnen und Politiker unseres Landes auch unser Lob.
Und damit möchte ich schließen.