Ist Ihnen in den letzten zwei Wochen etwas aufgefallen?
Dabei meine ich jetzt nicht die nachlassende Sorgfalt im Abstandhalten bei Begegnungen oder beim Tragen des Mund- und Nasenschutzes.
Nein: Es ist stiller geworden in Bochum!
Und zwar nicht, weil viele Menschen in den Urlaub gefahren sind – da hat die Pandemie doch viele Pläne durchkreuzt!
Nein: Es läuten keine Kirchenglocken mehr abends um 19.30 Uhr.
Weil plötzlich im Februar wegen der Corona-Pandemie aus Gründen der Sicherheit von einem Tag auf den anderen keine Gottesdienste mehr stattfinden konnten, läuteten abends um halb acht die Glocken der evangelischen und katholischen Kirchen in ganz Westfalen. Das Läuten sollte die Menschen einladen, zu einem gesprochenen oder stillen Vater-Unser innezuhalten. Wenn man sich schon nicht sonntags zum gemeinsamen Gottesdienst treffen durfte, dann sollte man sich doch während des Gebets zur gleichen Zeit als Teil einer großen Gemeinschaft fühlen dürfen, als Teil eines großen Ganzen, das uns alle trägt. Wir sprechen im Gebet ja: Vater UNSER – und nicht „mein“ Vater …
Nun gibt es wieder Sonntagsgottesdienste und auf das Läuten um halb acht wird wieder verzichtet. Ich finde das eigentlich schade.
Trotz aller Einsamkeiten doch Teil einer Gemeinschaft zu sein, wichtiger Teil eines Ganzen zu sein – das ist ein schönes Gefühl und ruft bei mir eines der berührendsten Bücher in Erinnerung, die ich in der letzten Zeit gelesen habe. Es stammt von Jostein Gaarder. Er hat unter anderem ein Buch geschrieben, das Sie vielleicht kennen: „Sophies Welt“. Darin geht es um die Geschichte der Philosophie, verpackt in eine für Kinder wie für Erwachsene spannende Handlung.
Jostein Gaarder hat aber auch ein Buch geschrieben, das weit weniger bekannt ist: „Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort“. Der etwas kompliziert klingende Titel ist der Bibel entlehnt, genauer dem Neuen Testament, wo bei Paulus im 1. Kor 13 steht: „Nun sehen wir durch einen Spiegel in einem dunklen Wort ... dann aber von Angesicht zu Angesicht ...“
In Jostein Gaarders Buch geht es um Krankheit. Um ein Mädchen, das an einer sehr ernsten Krankheit leidet, an der man sterben kann. Dieses Mädchen in seiner sehr ernsten Lage bekommt Besuch von einem Engel und redet mit ihm über Gott und die Welt und über ihr eigenes, zerbrechliches Leben.
Das Buch ist voller tiefer und schöner Einsichten, das kann und will ich Ihnen jetzt gar nicht alles erzählen, höchstens Ihnen das Buch zur Lektüre empfehlen. Es liest sich leicht trotz der Tiefe und ist gar nicht dick.
Nur den für mich schönsten Gedanken aus dem Buch, der mich intensiv beschäftigt hat, den will ich Ihnen jetzt mitteilen.
Vielleicht fragen Sie sich ja auch manchmal: Wer bin ich eigentlich? Wozu ist mein Leben gut? Was wird einmal davon übrig bleiben? Werde ich einmal nichts sein, wie ich vor meiner Geburt nichts gewesen bin?
Der Engel Ariel gibt Cecille, so heißt das Mädchen, eine verblüffende Antwort: Jeder einzelne Mensch ist ein unverwechselbarer, unaustauschbarer, nie ersetzbarer und auch unvergänglicher Blick Gottes auf seine Welt. „So wie durch deine Augen wird Gott die Welt nie wiedersehen, und alles, was du erfahren hast, gehört von dem Moment an zu seiner Erfahrung, zur Erfahrung Gottes, zur Erfahrung des großen Ganzen. Du bist ein unersetzbarer Teil des Blickes Gottes auf die Welt, und alles, was war und ist, bleibt in diesem Blick erhalten: Deine Kindergeborgenheit, dein erstes Verliebtsein, der Geruch der Sommerwiese, die Freude über das springende Eichhörnchen, das Schokoladeneis in der Stadt, das wunderbare Konzert ... alles, auch die schmerzvollen Dinge, auch deine Sorge und deine Angst, alles ist Teil des Blicks, den Gott durch dich auf seine Welt hat. Er selbst freut sich in dir und leidet mit dir. Du bist ein Teil des großen Ganzen und wirst deshalb nie verloren gehen.“
Wissen Sie, was für mich das Schönste an diesen schönen Gedanken ist? Einerseits, dass wir alle, Sie und ich, unseren ganz eigenen Platz haben, wir sind und bleiben Teil des Ganzen, es kommt auf jede einzelne Person wirklich an. Und andererseits dreht die Welt sich weiter, auch wenn wir einmal nicht mehr sind. Es kommt auf mich an, aber ich bin nur ein kleiner Teil eines großen Ganzen, das bleiben wird. Ich finde, darin liegt ganz viel Trost.
Vielleicht sollten wir die Glocken abends um halb acht doch wieder läuten lassen.
Hier finden Sie diese Andacht zum Ausdrucken.