Jesus erzählte folgendes Gleichnis:
Es war einmal ein Richter, der fürchtete sich nicht vor Gott noch vor den Menschen. Es lebte aber eine Witwe in derselben Stadt, die kam zu ihm und forderte: „Schaffe mir Recht!“ Er wollte nicht. Wieder und wieder bedrängte sie ihn, bis er schließlich zu sich sagte: Mir sind zwar Gott und die Menschen gleichgültig, doch will ich dieser Witwe zu ihrem Recht verhelfen, damit sie nicht zuletzt kommt und mir ins Gesicht schlägt.
Hört, was der ungerechte Richter sagt! Wird Gott nicht erst recht seinen Auserwählten helfen, die Tag und Nacht zu ihm rufen? Nein. Er wird ihnen schnellstens helfen.
(nach Lukas 18,1 - 8)
Würde Jesus uns heute diese Geschichte erzählen, um uns zum Glauben an Gott zu ermutigen, erzählte er sie vielleicht so:
Als einmal eine Witwe – nennen wir sie Ilse – als also Ilse Gott trifft, ist sie auf 180.
Das ist vielleicht nicht die günstigste Voraussetzung, um dem Allerhöchsten zu begegnen. Der ist es eher gewohnt, ehrfürchtige Beter und rechtschaffene Rentnerinnen vor sich zu haben. Aber Ilse ist keine, die sich um Diplomatie bemüht. Ilse ist ganz anders.
Auf den ersten Blick kommt man vielleicht nicht darauf, denn sie trägt ein graues Kleid mit Strickjacke, misst ein Meter sechsundfünfzig und hat die grauen Haare zu Zöpfen geflochten. Ein zartes Persönchen, denkt man sich und offenbar lässt sich selbst der Allerhöchste vom ersten Eindruck täuschen. Obwohl er es besser wissen könnte.
„So“, sagt Ilse und stemmt beide Fäuste in die Hüften. „Ich will mit dir reden. Erklär mir, womit ich mein Schicksal verdient habe. Warum ich? Was habe ich dir getan? Du hast mir meinen Mann genommen!“
Gott schweigt. Selbstverständlich kennt er das Schicksal ihres Mannes Hans. Aber er ist es nicht mehr gewohnt, dass die Leute ihn anklagen.
Ilse weiß natürlich ihrerseits, dass es der Krebs war, der ihren Mann auf dem Gewissen hat. Und dass dieser Krebs ein besonders aggressiver war, der wenig Hoffnung auf Wunder zuließ. Aber der Schöpfer aller Dinge würde doch wohl mit einem Haufen bösartiger Zellen fertig werden!
Ilse ist nie besonders religiös gewesen. Die seltenen Kirchenbesuche am Sonntag schienen ihr immer ein bisschen wirklichkeitsfremd. Aber es stört sie auch nicht, wenn die Glocken läuten und die Leute ein Halleluja singen. Da ist sie nachsichtig. Jeder, wie er will, sagt sie sich. Die einen gehen zur Kirche, die anderen lesen ein Buch.
Sie geht nicht davon aus, dass Gott, sollte es ihn geben, kleingeistig über die Freizeitbeschäftigungen seiner Geschöpfe wacht. Sicher hat er Besseres zu tun, und wenn es hart auf hart kommt, wird er schon da sein.
Dann kam es hart auf hart - und Gott schwieg. Und genau das nimmt Ilse ihm übel.
Deshalb steht sie nun vor Gottes Richterstuhl und hat nicht vor, sich mit irgendwelchen frommen Ausflüchten abspeisen zu lassen. Er ist ihr Rechenschaft schuldig!
„Vier Jahre Krebs! Findest du, dass mein Hans das verdient hat? Und die Kinder? Oder etwa ich? Sag, was haben wir dir getan?“
Hans hat Gott nichts angetan. Er hat sich überhaupt keiner Verfehlungen schuldig gemacht. Und selbst wenn er heimlich Wettbetrüger gewesen wäre – es liegt Gott fern, Menschen mit Krankheiten zu strafen. Oder überhaupt zu strafen. Auch wenn ihn das merkwürdig unbeteiligt aussehen lässt.
Ilse will sich damit nicht abfinden.
„Hör mir zu! Auch wenn du kein einziges Wort sagst, hör mir gefälligst zu! Wer sorgt jetzt für die Kinder? Wer kümmert sich um das Haus? Wer mäht den Rasen und holt die Pflaumen vom Baum? Wer arbeitet, kocht, putzt, tröstet, spielt, geht zu Elternabenden, besorgt Geburtstagsgeschenke, kümmert sich um das Auto, schmückt den Weihnachtsbaum, erzählt Gute-Nacht-Geschichten, zahlt den Kredit, erklärt die Welt? Sag, wer? Soll ich das etwa alles ganz alleine machen?“
Gott zieht den Kopf ein.
„Hast du schon einmal erlebt, wie das ist, wenn ein Mensch sich langsam auflöst? Vor deinen Augen?“
Das hat er. Er nickt ihr schweigend zu.
„Dann weißt du ja, wie schrecklich das ist. Warum verhinderst du es dann nicht? Wie kannst du das zulassen?“
Wieder schweigt Gott verlegen. „Ich komme wieder“, schnauft Ilse, „verlass dich drauf. Du entkommst mir nicht!“
Ilse geht jetzt jeden Tag in die Kirche. Pünktlich um 15.00 Uhr 30 steht sie vor dem Altar und zitiert Gott herbei.
Die anderen verstehen sie nicht.
„Nun lass doch den lieben Gott einen guten Mann sein“, sagen sie. Und dass er den Hans doch auch nicht wiederbringen kann. Mit Ilses Wut können sie noch weniger anfangen als mit ihrer Trauer. Traurigen Menschen kann man Kekse bringen und kleine Bücher mit Sonnenaufgängen und sinnigen Sprüchen. Aber Ilse braucht keine Sonnenaufgänge.
Sie braucht ein Gegenüber! Ilse will Gerechtigkeit! Mag sein, dass selbst Gott ihren Hans nicht zurückbringen kann. Aber wenigstens Rechenschaft ablegen, das soll er.
Jeden Tag steht sie von Neuem vor dem Altar. Jeden Tag sagt sie: „Du hast mir das eingebrockt. Jetzt mach es auch wieder gut. Oder ich erzähle allen, was du für ein Gott bist.“
„So darf man nicht mit Gott reden“, – finden einige. „Das ist respektlos.“
Aber Gott sieht das anders. Ilse löst eine merkwürdige Verwandlung in Gott dem Allmächtigen aus. War er zunächst nachsichtig und fühlte sich sich später unangenehm bedrängt, so beginnt er, je beharrlicher Ilse zu ihm kommt, eine gewisse Achtung für sie zu empfinden. „Die Ilse“, staunt er. „Die lässt nicht locker. Sie kämpft mit mir.“
Ilse traut ihm offenbar das Unmögliche zu. So eine ist Ilse. Diese Frau wird nicht locker lassen, und wenn sie ihm die Augen auskratzen muss. Sie nimmt ihn in die Pflicht. Das gefällt Gott. Es weckt ihn aus einem hundertjährigen Schlaf. Hatte er nicht einst versprochen, ihr Fels zu sein, sie auf Adlers Fittichen zu tragen, sie zu verteidigen wie eine Löwenmutter ihre Jungen? Hatte er nicht gesagt, sie sollen ihn anrufen in der Not? Wollte er nicht auf den Flügeln der Morgenröte daherkommen?
Und so findet Ilse Gehör. Gott beschließt, ihr Gerechtigkeit zu geben. Damit er nicht sein Gesicht verliert. Gott der Allmächtige gibt zu, dass er Hans nicht mehr retten konnte.
Er weint mit Ilse. Dann gibt er ihr Zuversicht, Sonnenlicht, einen Haufen skurriler Witze und Kraft und Mut und Kreativität. Und später einen neuen Mann zur richtigen Zeit. „Amen“, sagt Ilse. Der Kampf hat sich gelohnt.
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