... stolperte ich über dieses Gebet:
Verzeih mir, Schöpfer des Himmels und der Erde, den abwegigen Einfall:
Ich wollte dir aus meinem Sommerurlaub eine Ansichtskarte schicken. Aber keine war schön genug. Ich wollte dir die Berge zeigen. Die Menschen hatten mit ihren Anstrengungen, deiner Schöpfung Schaden zuzufügen, bei den Bergen bisher verhältnismäßig wenig Glück. Es ist so lange her, dass du die Berge gemacht hast. Deswegen solltest du sie noch einmal zu sehen bekommen, bevor sie doch Opfer unseres Zugriffs werden.
Was mich betrifft: Ich kann mich an den Bergen nicht sattsehen. Mit dem Meer verhält es sich ähnlich. Freilich denke ich manchmal verärgert: Berge verbergen mir die Aussicht. Aber das lässt sie ungerührt. Sie erheben sich über meinen Ärger. Sie stehen da, seit eh und je. Andererseits: Dass sie mir den Blick stehlen, kann ja auch seinen Reiz haben. Berge wecken in mir Neugier für das Hintergründige, für das Nochnichtgesehene, für das Fremde.
Berge haben Charakter. Aber wie sie ihre Garderobe wechseln! Mehrmals täglich. Sie sind ungemein erfinderisch in der Wahl ihrer Farben. Wie Grauschleier hängen sich Wolken an ihre Köpfe. Bald wirken sie entrückt, bald grüßen sie einander vertraut. Heute erscheinen sie als Schutz, morgen als Drohung. Selbst bei Nacht, wenn das Auge sie nicht oder kaum wahrnimmt, ist ihre Nähe deutlich spürbar. Ich rieche sie. Ich höre sie. Sie schweigen vernehmlich.
Der Tag verlässt gerade das Tal. Die Bergwand gegenüber ist bereits ergraut. Der Glanz, der sie vorhin lichterloh erstrahlen ließ, ist von ihr genommen. Sie hat ihn nicht aus sich selbst. Die Sonne wirft der Alpenspitze noch einen Blick zu.
Wie du dir den neuen Himmel und die neue Erde vorstellst, weiß ich nicht. Auf einiges könnte ich verzichten. Auf Schlangen zum Beispiel. Aber Berge sollten, wenn ich bitten darf, nicht fehlen.
(Nach einem Text von Hans Jürgen Schultz)