HimmelsAnker Nr. 8 vom 02.05.20

Ein junger Mann reiste zu einem sehr wichtigen Seminar. Es ging um Frieden, Gerechtigkeit, Gleichwertigkeit und die Frage: Wie lassen sich diese Werte im privaten, beruflichen und politischen Leben umsetzen?
Die Vorträge waren ermutigend.
Die Dozenten wahrhaftig und darum überzeugend. Ihre Worte weckten Hoffnung: So könnte sie sein, unsere Welt .... wenn nur alle Menschen es wirklich wollten: Frieden, Gerechtigkeit und  Gleichwertigkeit.

Und dann ging es in die Arbeitsgruppen. Schon nach wenigen Minuten begann der Stress. Und der Streit.
Die einen redeten ohne Punkt und Komma. Ein paar Leute versuchten, wenigstens ab und zu einen Gedanken loszuwerden, vergeblich.
Die Lautesten hatten sich schnell selbst zur obersten Gruppenleitung ernannt und beanspruchten Macht, Dominanz und Deutungshoheit in allen anstehenden Fragen.

Das gefiel den meisten Gruppenteilnehmern nicht, aber sie schwiegen. Sie hatten Angst, von denen mit den starken Ellenbogen untergebuttert, verlacht, verspottet zu werden.
Das war keine gute Situation für das Seminar über Frieden, Gerechtigkeit und Gleichwertigkeit.

Sieben Tage dauerte das Seminar. Drei Tage waren bereits vergangen. Die Vorträge waren nach wie vor spannend, die Gräben in den Arbeitsgruppen jedoch immer tiefer.

Am vierten Tag stand ein gemeinsamer Abend auf dem Programm – Zeit für freies Erzählen.

Wie wäre es, fragte der Seminarleiter, wenn wir einfach einmal alle von uns erzählen, warum wir hier sind, warum wir eine so große Sehnsucht nach Frieden, Gerechtigkeit und Gleichwertigkeit haben?

Langes Schweigen. Und dann begann einer zu reden. Wie er als schwarzer Bürger seiner Heimatstadt in den USA bis heute Rassismus erlebte, wie sie ihn unschuldig ins Gefängnis steckten, wie schwer es für seine Eltern und Geschwister ist, ein Leben mit Diskriminierung und Bedrohung zu führen.
Ein anderer berichtete darüber, wie er von seinem Vater gedemütigt wurde; eine junge Frau erzählte unter Tränen, dass sie in ihrer Familie sexuell missbraucht wurde. Einer wurde in seinem Ingenieurbüro gemobbt und in die Arbeitslosigkeit getrieben. Eine Lehrerin schilderte ihren aussichtslosen Kampf an der Schule, Kinder aus armen Familien vor der Ausgrenzung zu bewahren.

Es war sehr still im Raum.
Alle hörten einander zu.
Die Erzählungen der Menschen hatten die Urteile und die Vorurteile aufgehoben.
Und die Hierarchie. Es gab kein Oben und Unten mehr. An diesem Ort, wo Menschen sich plötzlich ihre Geschichten erzählten, war die Gewalt machtlos. Das Erzählen öffnete ihnen Augen, Ohren, Herz und Verstand.

Erzählen heißt nämlich: Einander begegnen.
Das Wort an den Nächsten richten und seine Geschichten hören, denn im Erzählen von Geschichten, seien es die eigenen oder die der anderen, geben wir unserem Leben Deutung und Sinn.
Wo eine Geschichte ist, da ist eine Person.
Wer seine Geschichte erzählt, wird zum Gegenüber, bekommt ein menschliches Antlitz.
Zusammenleben hat eine Chance, wenn wir aufmerksam und neugierig sind für das Unerhörte in uns und in den anderen.
Diese Art von Zuhören gelingt jedoch nur, wenn wir nicht eingesperrt sind im Kerker unserer eigenen Ängste.

In den Arbeitsgruppen war es von diesem Moment an unmöglich, sich weiter dominant oder arrogant über den anderen zu erheben.
Friede kehrte ein, Gerechtigkeit und Gleichwertigkeit.
Es war ein schönes Seminar.

In den Gremien und Gruppen und Kreisen unserer Gemeinden bieten wir Gelegenheiten und Orte, Menschen von sich und ihrem Leben erzählen zu lassen,
oder von Gott zu erzählen,
oder von Menschen zu erzählen, die Erfahrungen mit Gott, mit ihrem Glauben an Gott gemacht haben und warum ihnen das hilft.
 
Zur Zeit müssen unsere Gemeinderäume wegen der Pandemie geschlossen bleiben. Aber trotzdem sind solche Gespräche möglich.
Rufen Sie einander an! Rufen wir einander an! Rufen Sie uns an!

Amen.

 

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