HimmelsAnker Nr. 30 vom 03.10.20

Himmelsanker zum Erntedank

Zum Erntedank möchte ich ein Märchen erzählen.

Das Märchen „Der Frauensand“ erzählt von einer Hafenstadt, die unermesslich reich war. Aber, so heißt es, es gab auch keine andere Stadt, von der so viele Flüche zum Himmel stiegen.
Das Märchen erzählt von einer Jungfrau, die in dieser Stadt die reichste war. Ihr Herz war besonders hart und stolz, und sie fluchte oft gegen Gott.Eines Tages trieb sie es auf die Spitze. Sie rief den Kapitän ihrer Schiffsflotte und be-fahl ihm: „Bring mir das Edelste und Beste, was es auf der Welt gibt!“Der Kapitän war gewohnt, genauere Aufträge zu bekommen und fragte nach: „Was versteht meine Herrin unter dem 'Edelsten'? “Sie aber wurde wütend und schimpfte: „Fahr los, du hast meinen Befehl gehört!“
Unschlüssig überlegte der Kapitän hin und her.
Sein Denken aber war noch unverdorben. Und so steuerte er nach Danzig und befrachtete sein Schiff mit ausgesuchtem  - Weizen!
Denn er dachte: „Was gibt es wohl Kostbareres auf Erden als das herrliche Korn, ohne das kein Mensch leben kann?“

„Wie, Schiffsmeister“, rief ihm die Jungfrau entgegen, „du bist schon wieder hier? Ich glaubte dich an der Küste Afrikas, um Gold und Elfenbein zu holen. Lass sehen, was du geladen hast!“
Zögernd gestand der Mann: „Meine Herrin, ich führe euch zum köstlichsten Weizen, der auf der ganzen Welt gefunden wird!“

„Was?“ schrie sie, „so elendes Zeug bringst du mir? Ich will dir zeigen, wie verächtlich mir deine Ladung ist: Von welcher Seite ist das Schiff geladen?“
„Von der rechten Seite.“
„So, dann befehle ich dir, sofort die ganze Ladung auf der linken Seite ins Meer zu kippen. Ich komme selbst hin, um zu sehen, ob mein Befehl ausgeführt wird.“

Der Kapitän zögerte. In seiner Not rief er schnell die armen Leute der Stadt zusammen – in jeder reichen Stadt gibt es auch Arme – und stellte sie wie eine lebendige Mauer am Kai vor das Schiff. Und als die reiche Jungfrau kam, fielen alle Hungernden vor ihr auf die Knie, reckten die Arme und baten sie, ihnen doch das lieber zu schenken als es vom Meer verschlingen zu lassen. Aber ihr Herz blieb hart wie Stein. „Schüttet die ganze Ladung ins Meer!“

Als der Schiffsmeister alles ins Meer schütten musste, rief er laut: „Nein, diese Bosheit kann Gott nicht ungerächt lassen. Ein Tag wird kommen, wo ihr, Herrin, gerne diese kostbaren Körner eines nach dem anderen auflesen möchtet, um den Hunger damit zu stillen!“
Da zog sie mit stolzem Gelächter einen kostbaren Ring von ihrem Finger, warf ihn in die Wellen und rief: „Erst wenn ich diesen Ring wieder erblicke, sollen deine Worte wahr sein!“

Und was geschah?
Kurz darauf ging die Köchin der reichen Jungfrau auf den Markt und kaufte einen Schellfisch. Als sie ihn aufschnitt, fand sie den kostbaren Ring und zeigte ihn ihrer Herrin. Da erbleichte sie.
Und bald trafen Hiobsbotschaften aus aller Welt ein: Ein Teil ihrer Schiffsflotte ist gestrandet, eine anderer wurde geraubt, einige Schiffe sind gesunken. Kaum war ein Jahr vergangen – im Märchen geht manches schneller -  erfüllte sich die schreckliche Drohung des Schiffsmeisters: Arm und von niemandem betrauert, ja ausgelacht, ging sie hungrig und bettelnd von Tür zu Tür, bis sie verzweifelt starb.
Der Weizen aber, der ins Meer geschüttet worden war, spross und wuchs das folgende Jahr, aber er trug keine Ähren.
Niemand achtete die Warnung, und dann öffnete sich eines Nachts die See und verschlang mehr als drei Viertel der Stadt in rauschenden Fluten. Noch jedes Jahr versinken einige Hütten dort, am sogenannten "Frauensand“, wo jährlich immer an derselben Stelle Gras aus dem Wasser wächst, das keine Blüte trägt und das sonst nirgendwo auf Erden gefunden wird.

Das Erntedankfest feiern wir, um Gott zu danken. Und wir danken Gott, weil wir nach-denken. Denn wer nicht mehr nachdenkt, wird leicht unzufrieden, schließlich maßlos und eines Tages gottlos. Amen.

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