HimmelsAnker Nr. 84 vom 03.10.21

Erntedankfest 2021

Herr Wohllieb steht beim Bäcker, um ein Plunderteilchen zu kaufen. Freitags ist Plunderteilchentag. Beim Hinausgehen hört er einen Mann sagen: „Das habe ich mir aber anders vorgestellt.“ Es klingt vorwurfsvoll.
Herr Wohllieb bekommt nicht mehr mit, was dieser Mann sich anders vorgestellt hat – vielleicht seine Ehe oder eine im Internet bestellte Couchgarnitur, möglicherweise das ganze Leben. Auch das kann man sich ja ganz anders vorgestellt haben, es gibt keine Garantieleistung. Man kann niemanden verklagen außer vielleicht Gott. Aber auch da ist der Ausgang ungewiss.
Herr Wohllieb würde den Mann gern trösten. „Hören Sie“, würde er sagen, „kein Mensch kann sich alles richtig vorstellen. Eine Zeit lang habe ich es versucht. Ich wollte die Welt meinen Vorstellungen anpassen. Aber das ist ein mühsames Geschäft. Man kommt zu nichts anderem mehr. Ich wurde regelrecht depressiv. Deshalb habe ich damit aufgehört. Ich lasse mich einfach überraschen. Plunderteilchen gefällig?“

Das habe ich mir aber anders vorgestellt …
Das Erntedankfest ruft Erinnerungen hervor. An früher. An Menschen auf dem Feld, an Ernte, an Brotbacken und Einkochen. Die Erntegaben am Altar dürfen nur konservierte und abgepackte Lebensmittel sein, sonst dürfen wir sie nicht weitergeben.
Und dann fallen solche Sätze wie: „Früher war alles einfacher, war alles irgendwie besser, war alles anders. Das haben wir uns aber nicht so vorgestellt.“
Früher – als wäre es hundert Jahre her.

Einhundert Jahre liegen auch zwischen Gottes Anweisung an Noah, eine Arche zu bauen, und dem Moment, in dem die Sintflut alles Leben auf der Erde vernichtet.
Ein Jahrhundert mag lang erscheinen, aber es ist selbst im Kontext einer biblischen Geschichte bemerkenswert, dass ein Mann und seine Söhne es geschafft haben, ohne moderne Werkzeuge, ohne Strom und ohne einen Baumarkt in dieser Zeit etwas zu bauen, das groß genug für zwei Exemplare von jeder Tierart war.

Aber ein Jahrhundert ist ein unmöglich langer Zeitraum, um den Glauben nicht zu verlieren. Stellen Sie sich vor, wie diese Jahre für Noah gewesen sein müssen – jeden Tag als verrückt abgestempelt werden, sich jeden Tag mit seiner gesamten Identität, also seiner Kraft, seinen Mitteln und seinem Antrieb in den Dienst von etwas zu stellen, für das es keinen Beweis gab. Je länger Gottes Anweisung zurücklag, desto schwieriger muss es gewesen sein, die nötige Überzeugung dafür aufrechtzuerhalten. Er muss einen konstanten inneren Dialog geführt und immer genügend Rechtfertigungen auf Lager gehabt haben.
Und – nur am Rande bemerkt: Auch Noahs Zeitgenossen hatten 100 Jahre Zeit, Noah beim Bauen zu beobachten und seiner Begründung dazu Glauben zu schenken. Sie hätten ihn ernst nehmen können. Vielleicht hat der eine oder die andere kurz vor dem Ertrinken dann gedacht: „So habe ich mir das aber nicht vorgestellt.“
Noah war damals besser dran als wir heute.
Wenn wir wirklich bei Verstand sind und all die seriösen Erkenntnisse ernst nehmen, dann bleibt uns weit weniger als ein Jahrhundert, um unsere Arche zu bauen. Und wir haben vielleicht noch ein Jahrzehnt, um nötige Veränderungen auf den Weg zu bringen, um die wir bisher noch nicht einmal ehrlich kämpfen, weder mit anderen noch mit uns selbst.
Und im Gegensatz zu Noah haben dabei leider viele Menschen Gott komplett aus den Augen verloren.
Ohne göttliche Anweisungen müssen wir uns nicht nur selbst zum Handeln motivieren, sondern auch selbst entscheiden, was für eine Art Arche wir bauen wollen.
Unsere Arche könnte ein Raumschiff sein, mit dem wir den Mars besiedeln. Es könnte eine Saatgutbibliothek sein, mit deren Hilfe wir nach dem Absterben aller Pflanzen noch einmal von vorn anfangen. Oder eine DNA-Bank, um nach der Ausrottung aller Tiere von vorn zu beginnen. Es könnte aber auch eine Welle kollektiven Handelns sein.

Nachdem die Fluten zurückgegangen waren, zeigte Gott den Regenbogen als Symbol seines Bundes mit der gesamten Schöpfung, die Erde nie wieder zu zerstören. Und ab da war klar: Dieser Planet wird unser einziges Zuhause sein.

„Meinen Bogen setze ich in die Wolken, und er soll das Zeichen des Bundes sein zwischen mir und der Erde. Und es wird geschehen, wenn ich Wolken über die Erde führe, so soll der Bogen in den Wolken erscheinen; und ich werde meines Bundes gedenken, der zwischen mir und euch ist und jedem lebendigen Wesen von allem Fleische. Und nicht mehr sollen die Wasser zu einer Flut werden, alles Fleisch zu verderben.
Und der Bogen wird in den Wolken sein, und ich werde ihn ansehen, um zu gedenken des ewigen Bundes zwischen Gott und jedem lebendigen Wesen von allem Fleische, das auf Erden ist.“

Gottes Erinnerung an sich selbst ist dramatisch und für jeden sichtbar – sie steht buchstäblich am Himmel geschrieben. Was immer also die Absicht dahinter war, der Regenbogen ist auch eine Erinnerung für Noah. Für die Menschheit.
Wir werden daran erinnert, was Gott an uns, aber auch für uns getan hat und was Gott uns zugesagt hat. Wichtiger noch: Der Regenbogen hält uns die Möglichkeit der Zerstörung vor Augen, und das erinnert uns an etwas so Grundlegendes, dass daran eigentlich keine Erinnerung nötig sein sollte: Wir wollen nicht zerstört werden.
Global gesehen sterben mehr Menschen durch Selbstmord als durch Kriege, Morde und Naturkatastrophen zusammen. Es ist demnach wahrscheinlicher, dass wir uns selbst umbringen, als dass es jemand anders tut, und insofern sollten wir uns selbst mehr fürchten als andere.

Nehmen wir den Regenbogen als eine Erinnerung Gottes wahr, dann wissen wir: Niemand außer uns wird die Erde zerstören, und niemand außer uns wird sie retten. Die hoffnungsloseste Lage kann die hoffnungsvollsten Taten bewirken. Wir haben Wege gefunden, um das Leben auf der Erde im Falle eines totalen Zusammenbruchs wiederherzustellen, weil wir Wege gefunden haben, den totalen Zusammenbruch alles Lebens auf der Erde zu bewirken.
Wir sind in der Lage, alles zu vernichten, weil die Entscheidung für den Tod bequemer ist als die für das Leben. Wir glauben, dass irgendein Genie bestimmt irgendwann und irgendwo eine Wundertechnologie erfinden wird, die die Welt verändert, damit wir unser Leben nicht zu ändern brauchen. Weil kurzfristiger Genuss verlockender ist als langfristiges Überleben.
Weil wir von unseren Möglichkeiten keinen Gebrauch machen, bevor es unser Nachbar nicht auch tut, bevor es die Energie- und Autokonzerne nicht tun. Bevor es die Regierung nicht tut. Bevor es China, Australien, Indien, Amerika, England, bevor es die ganze Welt nicht tut.
„Wir müssen etwas tun“, sagen wir uns selbst, und warten dann auf Anweisungen, die nie kommen werden. Wir wissen, dass wir uns für das eigene Ende entscheiden – wir können es bloß nicht glauben.
„Wir sind die Sintflut. Und wir sind die Arche.“

Diese Worte stammen nicht von mir, sie gehören dem Autoren Jonathan Safran Foer. Ich habe sein Buch „Wir sind das Klima“ wirklich gebannt gelesen und kann es allen hier empfehlen.

Der ökumenische Ernteumzug für heute Nachmittag wurde abgesagt. Aber vielleicht macht das ja gar nichts. Vielleicht setzen Sie sich gleich an einen Tisch. Tauschen Erinnerungen an früher aus. Und dann blicken Sie nach vorne und machen sich bewusst, was eintreten kann, wenn wir weiterhin untätig bleiben. Denken Sie nicht: „Das haben wir uns aber so nicht vorgestellt!“ Lassen Sie sich von sich selbst überraschen! Formieren Sie sich neu.
Entdecken Sie sich neu.

Vergewissern Sie sich Ihrer Spiritualität, die sich in der Liebe zum Nächsten, der Toleranz gegenüber anderen, der Achtung und Bewahrung der Schöpfung und im Engagement für Gerechtigkeit und Frieden ausdrückt … und denken dabei an Ihre Kinder. Denn diese und wiederum deren Kinder wird in Zukunft interessieren, ob wir das Nötige getan haben.
Haben Sie auch Mut zum Glauben an Gott, zum Glauben daran, dass da mehr ist, als wir uns vorstellen können. Aus diesem Vertrauen erwächst Liebe. Und diese Liebe bringt Hoffnung hervor. Das ist nicht der Beginn der Weisheit, das ist das Ende der Resignation.