HimmelsAnker Nr. 58 vom 04.04.21 (Ostern)

Frohe Ostern!

Seien Sie herzlich willkommen zu meinem Versuch, das Ostergeschehen für heute zu deuten. Oder besser: Seien Sie herzlich willkommen zuzuhören, wie das Neue Testament versucht, die Auferstehung Jesu in den Griff zu bekommen.
Als Beispiel dient mir die Geschichte der zwei Jünger auf dem Weg nach Emmaus an dem Tag, an dem Maria, Johanna und Maria, die Mutter von Jakobus sowie Petrus das leere Grab Jesu entdeckt hatten.
Der Evangelist Lukas erzählt diese Geschichte in seinem 24. Kapitel:

Und siehe doch: Am selben Tag waren zwei Jünger unterwegs zu dem Dorf Emmaus. Sie unterhielten sich über alles, was sie in den letzten Tagen erlebt hatten. Dann, während sie noch miteinander redeten und hin und her überlegten, kam Jesus selbst dazu und schloss sich Ihnen an. Aber es war, als ob ihnen jemand die Augen zuhielt, und sie erkannten ihn nicht!

Fluchtartig haben die beiden den Ort ihrer Erwartungen verlassen.
Alles, worauf sie die letzten Jahre ihres Lebens aufgebaut haben, Jesus, auf den sie ihre Hoffnung, ihre persönliche Zukunft und die ihres Volkes gesetzt hatten - alles ist kaputt.
Sie wollen nur weg von diesem Ort der Enttäuschung. Sie laufen davon, gehen aber in ihrer Erinnerung immer wieder zurück zu den Ereignissen der letzten Tage.
Ihr Gespräch zeigt uns: Ihr Leben ist aus den Fugen geraten, ihre Pläne wurden buchstäblich "durchkreuzt". Zerbrochene Hoffnungen und Enttäuschungen, Trauer und Zorn, Angst und Ratlosigkeit, Unsicherheit: Dieses Wechselbad der Gefühle trifft auch uns:
Zwei Menschen auf dem Weg … Das sind auch wir. Du und Sie und ich. Wir alle. Früher, jetzt und zukünftig auf den Wegstrecken unseres Lebens.

Und während die beiden miteinander redeten, kommt Jesus dazu und schloss sich ihnen an.

Mal ganz ehrlich: Die beiden müssen ihn doch bemerkt haben! Oder hat er sich von hinten an sie herangeschlichen? Kam er ihnen etwa entgegen? Oder gab es Seitenstraßen?
Wie Lukas diese Begegnung erzählt, klingt sie unwirklich, geheimnisvoll, nicht zu fassen.
Plötzlich geht Jesus mit, die Jünger wundern sich nicht, und, viel mysteriöser noch:

… sie erkannten ihn nicht“.

In ihrer Ratlosigkeit und Trauer kommt es den beiden Jüngern überhaupt nicht in den Sinn, dass Jesus selbst sie begleitet. Sie sind wie blind vor Trauer und Schmerz. Sie haben noch keinen Blick für Zeichen der Hoffnung. Aber die beiden lassen sich vom vermeintlich Fremden ansprechen:

Er fragte sie: Worüber seid ihr unterwegs so sehr ins Gespräch vertieft? Da blieben sie traurig stehen. Der eine – er hieß Kleopas – antwortete ihm: Du bist wohl der einzige in Jerusalem, der nicht weiß, was dort in diesen Tagen passiert ist.

Jetzt könnte man eigentlich erwarten, dass Jesus antwortet: „Doch, weiß ich. Es ging um meine Kreuzigung. Aber erkennt ihr mich nicht? Ich bin´s. Euer Jesus!“ Doch stattdessen bleibt es geheimnisvoll! Jesus fragt sie nämlich interessiert:

Was denn? Was ist denn passiert? Sie sagten zu ihm: Das mit Jesus von Nazareth! Er war ein großer Profet. Das hat er durch sein Wirken und mit seinen Worten vor Gott und dem ganzen Volk gezeigt. Unsere führenden Priester und die anderen Mitglieder des jüdischen Rates haben dafür gesorgt, dass er zum Tode verurteilt und gekreuzigt wurde. Wir hatten doch gehofft, dass er es ist, der Israel erlösen soll. Aber nun ist es schon drei Tage her, seit das alles geschehen ist.
Und dann haben uns einige Frauen, die zu uns gehören, aus der Fassung gebracht: Sie waren frühmorgens am Grab. Aber sie konnten den Leichnam nicht finden. Sie kamen zurück und berichteten: Wir haben Engel gesehen. Die haben uns gesagt, dass Jesus lebt!
Einige von uns sind sofort zum Grab gelaufen. Sie fanden alles so vor, wie die Frauen gesagt haben - aber Jesus selbst haben sie nicht gesehen.


„Aber jetzt bin ich ja bei euch. Erkennt ihr mich denn nicht? Die Frauen hatten recht: Ich bin´s: Jesus!“ - könnte Jesus jetzt erwidern. Macht er aber nicht! Statt dessen schreibt Lukas:

Da sagte Jesus zu den beiden: Warum seid ihr so begriffsstutzig und tut euch so schwer damit zu glauben, was die Profeten gesagt haben? Musste der Christus das nicht alles erleiden, um in die Herrlichkeit seines Reiches zu gelangen? Und Jesus erklärte ihnen, was in den Heiligen Schriften über ihn gesagt wurde - angefangen bei Mose bis hin zu allen Profeten.

Das muss man sich mal vorstellen: Da macht Jesus mit den beiden einen gedanklichen Gang durch die Texte der hebräischen Bibel. Er deutet seine Kreuzigung im Licht dieser Texte … und wir erfahren: Nichts! Warum kriegen wir nicht gesagt, was Jesus da erzählt hat? Es hätte mich sehr interessiert, wie Jesus Jesaja 53 auslegt oder Psalm 22. Ich hätte das wirklich gerne gewusst! Von Jesus selbst! Das wäre es doch gewesen! Was macht Lukas da?

Man kann sich darüber ärgern. Aber eigentlich ist Lukas ist klug, vielleicht sogar sehr weise und bringt hier ganz bewusst keine Deutung der Person Jesu im Lichte des Alten Testaments, im Licht der hebräischen Bibel. Stellen wir uns vor: Wenn Jesus sich an dieser Stelle für uns mit Hilfe alttestamentlicher Texte erklärt hätte, dann wären wir vielleicht ein komisches Christentum geworden. Dann würden wir heute vielleicht sagen: Wir haben den Schlüssel ein für alle mal. Unser Herr und Meister hat nach seinem Tod das Alte Testament vollständig ausgelegt und bis zu seiner Wiederkehr werden wir diese Auslegung vorlesen. Damit haben wir die Wahrheit über ihn klipp und klar und schwarz auf weiß. Besser geht es nicht.

Was Lukas hier macht, ist etwas ganz Wunderbares: Er hält die Wahrheit offen!
Die Wahrheit wird hier eben nicht fixiert auf einen Schlüssel, der die biblischen Texte in einer ein für alle mal gültigen Weise auslegt. Alle biblischen Texte müssen sich immer wieder neu, immer wieder frisch, immer wieder anders ereignen. Es kann für sie keinen ewigen und absoluten Schlüssel geben.
Denn Jesus ist so viel mehr als die Deutungsmuster in den Texten der hebräischen Bibel.
Er ist so viel mehr. Wie geht die Geschichte weiter?

So kamen sie zu dem Dorf, zu dem sie unterwegs waren. Jesus tat so, als wollte er weiterziehen. Da drängten sie ihn: Bleib doch bei uns. Es ist fast Abend und der Tag geht zu Ende. Er ging mit ihnen ins Haus und blieb dort.

Bleib doch bei uns. Das ist eine Bitte. Nichts weiter. Jesus kann sich entscheiden – ich bleibe, oder ich bleibe nicht. Für mich heißt das: Christlicher Glaube hat keine Macht zu zwingen. Im christlichen Glauben lässt sich nichts erzwingen, nichts befehlen, nichts bestimmen. Christlicher Glaube eröffnet Raum zur Freiheit, eröffnet Freiräume.
 
Dann, nachdem er sich mit ihnen zum Essen niedergelassen hatte, nahm er das Brot und sprach das Dankgebet. Er brach das Brot in Stücke und gab es ihnen. Da fiel es ihnen wie Schuppen von den Augen und sie erkannten ihn. Im selben Augenblick verschwand er vor ihnen.

Es bleibt geheimnisvoll: Er bricht das Brot, sie erkennen ihn - und weg ist er. Nicht mal eine Umarmung zum Abschied. Kein „Auf Wiedersehen“ oder so. Sie erkennen ihn – und schon ist er wieder weg. Er geht nicht durch die Tür. Er fliegt nicht davon; er ist einfach weg. Schreibt Lukas.
Plötzlich erkennen die Jünger ihn. Plötzlich ist greifbar und nah, plötzlich wäre er ihr Held: Und sofort ist er ihnen wieder entzogen.
Vielleicht will Lukas uns sagen: In dem Moment, in dem du dich mit Jesus beschäftigst, in dem Moment, in dem du ihn klar vor Augen hast, wenn du meinst, du hast Jesus jetzt gepackt, du hast verstanden, was Auferstehung bedeutet: Im nächsten Moment hast du ihn auch wieder nicht! Jesus selbst nicht – und seine Auferstehung auch nicht.

Das ist die Auferstehungsgeschichte, wie Lukas sie bis hierhin beschreibt. Für mich will Lukas mit seiner Geschichte sagen: Alles, was für den christlichen Glauben wesentlich ist, lässt sich nicht in ein System pressen! Christlicher Glaube entfaltet sich nur in Offenheit, in Freiheit! Solch ein Glaube ermöglicht es mir, in die Geschichte einzutreten und sich von ihr ergreifen zu lassen; darin zeigt sich für mich die Wahrheit dieser Geschichte. Dieser Glaube ermöglicht es mir, die österliche Erzählung für mich und durch mich wahr zu machen. Denn diese Geschichte fordert mich dazu auf, weiter zu erzählen, was sie mit mir macht.

Ihnen allen ein frohes und gesegnetes Osterfest!