HimmelsAnker Nr. 49 vom 07.02.21

Liebe Gemeinde,

ich habe in der letzten Zeit für die Schule einige Wundergeschichten gelesen. In meiner achten Klasse wird gerade das Thema "Wundergeschichten Jesu" behandelt. In der Bibel gibt es unglaublich viele Wundererzählungen: Jesus heilt, stillt einen Sturm, macht Wasser zu Wein, lässt Menschen auferstehen, macht über 5000 Menschen mit wenig Essen satt und so weiter… Die Liste von den Wundertaten Jesu ist lang.

Mir ist aufgefallen, dass mir gar nicht klar ist, was die biblischen Schriftsteller und Schriftstellerinnen eigentlich damit sagen wollten. Sollte Jesus einfach als „Superheld mit besonderen Fähigkeiten“ dargestellt werden oder steckt da vielleicht mehr dahinter?

Ich lese die Wundergeschichte von Bartimäus aus dem Markusevangelium. Vielleicht wundern Sie sich gleich über die Erzählweise dieses Textes. Diesen Text habe ich mit anderen Vikaren und Vikarinnen zusammen übersetzt. Er klingt vielleicht etwas anders, als Sie ihn kennen. Aber lesen Sie selbst:

Der Übersehene blickt auf (Mk 10, 46–52)

Gerade reiste Jesus mit seinen Jüngern wieder fort aus der Stadt Jericho. Sie umgab eine Menschenmenge — unter uns gesagt: Fast schon zu viele Leute. Bartimäus, der Sohn von Timäus, ein übersehener Bettler, saß auf der Erde neben dem Weg. Der Name seines Vaters bedeutete "der Ehrfürchtige", sein eigener "der Schwermütige".  Da hörte er, dass es Jesus von Nazareth war. Er fing an zu schreien: "Sohn von David, Jesus! Zeige, dass Du Mitleid mit mir hast!" Aber viele Leute machten ihm Angst und ein schlechtes Gewissen, um ihn mundtot zu machen. Doch er schrie noch viel mehr und hörte auch gar nicht mehr auf: "Sohn von David! Zeige, dass Du Mitleid mit mir hast!" Und Jesus stoppte ab und sagte: "Ruft ihn bei seinem Namen her!" Und sie riefen zu dem Übersehenen: "Bartimäus! Sei mutig und steh auf! Er ruft Dich bei Deinem Namen!" Da schleuderte er seinen schweren Mantel weit von sich weg. Er sprang auf die Füße und ging auf Jesus zu. Und Jesus ging auf ihn ein. Er sagte zu ihm: "Was willst Du — was soll ich für Dich tun?" Der Übersehene sagte zu ihm: "Mein Rabbi, ich will, dass ich aufblicken kann!" Und Jesus sagte zu ihm: "Dann los! Dein Vertrauen sorgt dafür, dass Du aus der Gefahr gerettet bist und am Leben bleibst." Und sofort blickte er auf und folgte ihm auf dem Weg.

Liebe Gemeinde vor dem Bildschirm oder am Telefon,

vielleicht kennen Sie ja diese Geschichte ganz anders. In den meisten Bibelübersetzungen wird Bartimäus als blinder Mann beschrieben, den Jesus wieder sehend macht. In der Übersetzung, die Sie gerade gehört haben, ist Bartimäus schwermütig. Er ist ausgelaugt, traurig und findet in seinem Leben vor der Begegnung mit Jesus keinen Grund aufzublicken. Vielleicht ist er einsam. Oder er hat in der Vergangenheit schlimme Dinge erlebt, die ihn noch immer sehr belasten. Vielleicht war er auch lange krank und hat wenig Mut und Kraft, sein Leben ohne Krankheit wieder neu zu starten. Vielleicht lähmt ihn die Angst, enttäuscht zu werden. 

Doch auf einmal fasst er sich ein Herz und tut alles, damit Jesus ihm hilft. Jesus ist seine Motivation. Er weiß, dass er ihm helfen wird und schmeißt seinen Mantel zur Seite, damit er schnell zu Jesus kommen kann. Jesus lässt ihn dann aufblicken. Was das für Bartimäus bedeutet haben muss, kann nur erahnt werden. Ich kann mir das aber bildlich so richtig vorstellen. Wenn ich mit gesenktem Kopf durch die Straßen gehe, geht es mir meistens nicht gut. Dann bin ich lustlos, genervt und manchmal traurig. Wenn ich aber mit erhobenem Kopf und geradem Rücken umhergehe, gibt mir das ein Gefühl von Sicherheit und Stärke. Dann bin ich selbstbewusst und achte auch mehr auf meine Mitmenschen und auf das, was um mich herum passiert.

Um nochmal auf meine Frage zu Beginn zurückzukommen: Für mich hat diese Wundergeschichte eine doppelte Aussagekraft.

  1. Jesus will, dass wir aufrecht durch unser Leben gehen. Er will, dass wir die Welt um uns herum wahrnehmen und, dass es uns gut geht. Das wir selbstbewusst und gestärkt sind. Außerdem kann ich, wenn ich andere wahrnehme, auch andere anstecken aufzublicken. Ich kann wahrnehmen, dass es Menschen schlecht geht und so vielleicht helfen.

  2. Im Reich Gottes gibt es Wunder. Das Reich Gottes ist bereits angebrochen, aber noch lange nicht vollendet. Aber! Wunder geschehen, jeden Tag! Und das gibt mir Hoffnung. (Wenn die alleinerziehende Mutter den Lockdown mit ihren Kindern und der Schule zu Hause gemeistert bekommt. Wenn Ärzte und Ärztinnen im Krankenhaus täglich Leben retten und über ihre Kapazitäten alles geben, um Menschen zu helfen. Wenn Sie und ich durch diese 2000 Jahre alte Geschichte von Bartimäus im Glauben gestärkt werden. All das sind für mich Wunder.)


Ich wünsche Ihnen zu Hause solche wunderhaften Erlebnisse, wie Bartimäus sie erlebt hat.

Ich werde jetzt gleich mal eine Runde spazieren gehen und versuchen, die ganze Zeit aufrecht mit erhobenem Blick zu gehen. Mal sehen, ob es mir gelingt und auf welche wundersamen Dinge mich Gott aufmerksam machen möchte. Vielleicht haben Sie ja Lust das auch mal auszuprobieren.

Amen

Ihre Vikarin Alica Baron-Opsölder