HimmelsAnker Nr. 77 vom 08.08.21

Jesus

Der 8. August ist in diesem Jahr der 10. Sonntag nach Trinitatis, traditionell auch „Israel-Sonntag“ genannt. Ich nehme das zum Anlass, über den Juden Jesus zu sprechen, über den Mann, dem wir unseren Glauben an Gott zu verdanken haben, dem wir in unserer Gemeinde nachzufolgen versuchen.

Jesus war weder politisch korrekt noch diplomatisch.
Seine Lebensweise und seine revolutionären Gedanken, die ihn immer wieder gezwungen haben, sich gegen den Strom und das etablierte System zu stellen, haben dafür gesorgt, dass er zu Lebzeiten eine gar nicht so große Gefolgschaft hatte. Aber das macht ihm offensichtlich nicht allzu viel aus.
Ich selbst bewundere Jesus, einen Mann, tief im jüdischen Glauben an Gott verwurzelt, und bedauere gleichzeitig, was Menschen aus ihm gemacht haben. Der Wunsch ihm zu folgen, ist natürlich mit meinem persönlichen Glauben verbunden. Trotzdem behaupte ich: Ihm zu folgen ergibt für mich viel Sinn, an ihn nur zu glauben nicht. Jemand hat einmal gesagt – und dieser Satz ist seitdem in meinem Kopf: Jesus braucht Menschen, die ihm nachfolgen – keine Menschen, die ihn anbeten. Ich denke, er braucht beide Sorten von Menschen – aber beide zusammen.

Wie soll man Jesus folgen?
Unzählige Menschen versuchen seit Ewigkeiten, diese Frage zu beantworten – und alle beantworten sie unterschiedlich. Dadurch entstand ein Mosaik von Gruppierungen und Konfessionen. Denn: Unterschiedliche Menschen betonen auch unterschiedliche Aspekte des Lebens Jesu. Manche fühlen sich angezogen von seiner asketischen Art zu leben. Andere dagegen meinen, dass müsse man alles symbolisch verstehen.
Das Schwierige ist: Jesus redete von Gott und dem Glauben an Gott oft in Gleichnissen, in Bildern und Geschichten. Es gibt demnach keine eindeutige „Lehre“ von ihm.
Aber die Gleichnisse, seine Bilder von Gott und seine Geschichten mit Gott warten in jeder Menschengeneration auf ihre Interpretation, warten darauf, dass sie auch in unserem Leben einen Raum einnehmen können, dass sie auch in unserem Leben Wirkung zeigen.

Jesus, der Jude, hat uns seinen Glauben an Gott gegeben, weil in diesem Glauben scheinbar der einzige Ort ist, in dem man menschlichen Formen von Hilflosigkeit, Gebrochenheit, Verzweiflung, Ausgegrenztheit, Einsamkeit, Unfreiheit und Verlorenheit einen Raum gibt; einen Raum, in dem nicht länger zensiert wird, wo die Frage nicht mehr lautet: „Was hast du da gemacht?“, sondern allenfalls: „Was hat man mit dir gemacht? Was geht in dir vor? Wie fühlst du dich selber?“
Den Menschen mit Gnade zu begegnen – das kann nur dieser Glaube, das kann nur solch ein Vertrauen zu Gott, wie Jesus es gelebt hat.
In diesem Glauben, in diesem Raum von Gotteserfahrungen spüren wir, dass Gott Menschlichkeit will, Güte will, Verstehen will. Und wir können doch nur so gut sein, wie wir an Güte selbst erfahren haben. Und wenn das so ist, haben wir doch wiederum auch Glück gehabt. Wir sind Menschen begegnet, die es uns geschenkt haben, gut sein zu können.
Und nun ist es unsere Aufgabe, diese Güte weiter zu schenken. So einfach ist das!

Für mich heißt das:
Jede Generation in jedem Land der Welt sollte einen Weg finden, Jesu Worte und Taten für ihre spezielle Zeit und ihren speziellen Ort zu deuten. Sich von Jesus inspirieren zu lassen – von seinem unruhigen Geist, von seinem Charisma, seiner Überzeugung, seinem Kampfgeist und seiner Sehnsucht nach Wahrheit, seiner Entschlossenheit, das Richtige zu tun.

Was Jesus sagte, was er von Gott erzählte, wie er Gott erfahrbar machte, wie er an Gott glaubte und diesen Glauben weitergab – das ist wichtig! Das, was er aus diesem Grunde getan hat – das ist zeitlos wichtig! Denn man liebte seine Nächsten vor zweitausend Jahren auf die gleiche Weise, wie wir es auch heute tun sollten.
Jesus nahm für sich persönlich Korrekturen vor, er ergänzte, er intensivierte, er deutete neu, er sprengte Glaubensbegrenzungen – so lebte er seinen Glauben an Gott. Und seinen Glauben vermittelte er exklusiv.
Seine Gotteserfahrung repräsentierte er mit seinem Leben, mit seinem Tod und für viele sogar über seinen Tod hinaus.

Somit steht dieser Jesus aus Nazareth für mich als Symbol für den Anfang, die Gegenwart und die Zukunft. Als Teil der jüdischen Geschichte und der jüdischen religiösen Erfahrung verbindet er die Menschen durch die Texte der Thora und der Propheten, die er liebte, zitierte und auslegte, mit dem Anfang. Zusammen mit ihm besuchen wir Adam und Eva im Paradies, begleiten wir Abraham in das unbekannte Land, ziehen wir mit Mose durch die Wüste und suchen nach unserem gelobten Land.

Und wenn wir uns mit diesem Jesus beschäftigen, dann findet auch die Gegenwart statt:
Er fordert die Menschen auf, Dinge zu überprüfen und Dinge zu verändern – im Hier und Jetzt! Jesus macht uns Mut, zu kämpfen und zu träumen und – was noch wichtiger ist – unsere Träume zu leben! Mit Jesus zieht der Mensch durch sein Leben, in dem er liebt und weint, mal getröstet und mal verraten wird. Jesus bringt dem Menschen den Idealismus und den Glauben an das Unmögliche bei.

Und dann wird mit der Erfahrung seiner Auferstehung aus Jesus der Christus und dieser wird für alle, die das nachempfinden können, zu einem Zeichen der Zukunft.
Er verkörpert die menschlichen Träume und Sehnsüchte nach der Wirkmacht Gottes. Er verleiht ihnen eine Form und gibt ihnen Hoffnung. Mit Jesus Christus lernt man, einen Teil der göttlichen Größe und Ewigkeit in sich selbst wahrzunehmen, sie zu entwickeln und zu fördern.
Der historische Mensch Jesus und später der Christus Jesus unseres Glaubens hat diesen Weg gebahnt. Aber darin besteht nicht nur die Lösung, sondern eben auch ein Teil des Problems. Menschen können an Christus glauben, dem Menschen Jesus sollten sie folgen, denn ohne ihn werden sie auch keinen Anteil an Christus haben können.

Ich finde es bemerkenswert, dass Jesus so gut wie nie den Glauben oder die religiöse Überzeugung einzelner Menschen angegriffen oder hinterfragt hat. Nicht, ob man „richtig“ glaubt, sondern, ob man richtig handelt, war und bleibt die Frage.

Unsere heutige Welt hat es dringend nötig, den Menschen Jesus wieder zu entdecken und ihm nachzufolgen. Das ist die Aufgabe im Hier und Jetzt.
Nur, wenn wir dem Menschen Jesus folgen, werden wir ihm auch als Christus begegnen.