HimmelsAnker Nr. 27 vom 13.09.20

Gedanken zum 23. Psalm

Ein Pfarrer im sehr frommen Siegerland versuchte einmal in einer Bibelstunde zu erklären, dass die Psalmen eben nicht zum Neuen Testament gehören.
Er zeigte auf, dass die Psalmen seit alten Zeiten Gebete Israels sind und dass sie zum Alten Testament gehören.

Offenbar hatte dieser Versuch Erfolg, denn eine ältere Frau bekundete ihm bei der Verabschiedung dankbar, sie habe nun verstanden, dass die Psalmen zum alten Testament gehören.

Aber dann fügte sie hinzu: „Obwohl, Herr Pfarrer, der 23. Psalm ist doch wirklich von Jesus, oder?“

Es ist für manche tatsächlich schwer zu verstehen, aber die Psalmen sind die poetische Antwort Israels auf Gottes Wirken – so sagte es einmal der Alttestamentler Gerhard von Rad.

In poetischer Weise „verdichtet“ sich in einem Psalm eine konkrete Situation zu einem Gebet, das nachfolgend von vielen Betenden in vielen Generationen in ähnlichen Situationen nachgesprochen werden kann.

Doch für jeden Psalm gibt es immer erst den einen, den ganz konkreten Anlass.

Solch eine konkrete Situation möchte ich an dem berühmten 23. Psalm verdeutlichen.

Wir sprechen im Gottesdienst einen Psalm auch darum, weil wir empfinden, dass wir in ihm vorkommen, dass in ihm auch unsere und meine persönlichen Erfahrungen und Empfindungen Worte finden.
Das ist ja auch nicht falsch. Aber ich muss nicht die Hauptperson einer Geschichte sein, um in ihr vorzukommen.

Wer also spricht im 23. Psalm?
„Gutes und Freundlichkeit verfolgen mich alle Tage meines Lebens“, heißt es darin wörtlich übersetzt.
Unsere Lutherbibeln zitieren hier, auf den ersten Blick sinnvoller: „Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen“.
Wörtlich steht jedoch da „verfolgen“.

Aber warum ist hier von Verfolgen die Rede?
Nun – der Grund liegt nicht darin, dass der betende Mensch verfolgt wird, sondern darin, dass dieser Mensch jetzt von Güte und Freundlichkeit verfolgt wird.

Eine tatsächliche Verfolgung hat sich also in ihr Gegenteil verkehrt, in etwas, das man normalerweise gerade nicht als Verfolgung bezeichnen würde.
Kurz: Wer von Güte und Freundlichkeit verfolgt wird, wird eben nicht mehr verfolgt, erfährt jetzt das Gegenteil, erlebt Zuwendung.

Der erste Beter des 23. Psalms – vielleicht war es auch eine Frau – hat eine Zuflucht gefunden, eine Zuflucht im Tempel.
Im 23. Psalm betet ein Mensch, der im Tempel Asyl gefunden hat!

Psalm 23 spricht nicht allgemein davon, dass der Mensch Gott als guten Hirten erlebt und bekennt.
Psalm 23 lässt vielmehr einen konkreten Verfolgten in seiner ganz realen Lage zu Wort kommen.
Da fühlt sich ein Mensch wie ein verdurstendes Schaf und findet dann als Flüchtiger Zuflucht im Tempel und bekommt den Tisch gedeckt und den Becher gefüllt bis an den Rand.

Die Situation im 23. Psalm war also einmal sehr konkret. D.h. Psalm 23 ist nicht zeitlos, sondern zu verschiedenen Zeiten konkret.

Wer versucht, diesen berühmten Psalm einmal so zu lesen, als sei er noch völlig unbekannt, wird seine Ecken und Kanten wahrnehmen.

Sein Thema ist Asyl – und nicht Idyll.

Wer Psalm 23 betet und dabei fragt, was dieser Psalm heute zu sagen hat, tut gut daran, dabei auch ganz konkret nach der eigenen Rolle zu fragen.
Bin ich das vom Verdursten bedrohte Schaf?
Bin ich der verfolgte Mensch?

Oder bin ich aufgefordert, denen den Tisch zu decken, die Hunger und Durst haben und die verfolgt werden oder von Verfolgung bedroht sind?

Auch dann komme ich in diesem Psalm vor – auch und gerade dann hat er mir etwas zu sagen.
Auch dann darf, kann, soll ich ihn mitsprechen.

Er wird dann womöglich zu einer „Fürbitte“, die mich zugleich mit in die Pflicht nimmt, wenn ich am Ende das „Amen“ spreche.

Amen.

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