HimmelsAnker Nr. 86 vom 17.10.21

Alt werden ist nichts für Feiglinge!

HimmelsAnker zum 20. Sonntag nach Trinitatis | Kohelet 12,1-7

Mal für kleine Königstiger gehen. Hinter schwedischen Gardinen sitzen. Matratzensport treiben. Die Radieschen von unten angucken. Ein Ding drehen. Montezumas Rache. Einen Koffer stehen lassen. Ein Schäferstündchen halten. Ins Gras beißen. Ein Geschäft verrichten.

Sie kennen bestimmt mindestens einen dieser Ausdrücke. Man nennt sie Euphemismen. Das kommt aus dem Griechischen. Zusammengesetzt aus „eu“ für „gut“ und „phemi“ für „ich sage“. Also ich sage Gutes. Aber in Wirklichkeit sagt man mit einem Euphemismus nichts Gutes. Man benutzt ja nur ein schönes Wort für etwas, über das man nicht so gern redet, z.B. das Ausscheiden von Verdauungsprodukten, Sex, kriminelle Machenschaften oder den Tod.

Es gibt unglaublich viele Euphemismen aus allen möglichen Bereichen und in allen erdenklichen Sprachen. Das ist ja auch kein Wunder. Denn mit solchen Euphemismen können wir über Tabuthemen reden.

Auch in der Bibel finden sich viele Beispiele für Euphemismen. Da geht es schon fast direkt am Anfang los: „Adam erkannte seine Frau Eva“ steht zum Beispiel in der Lutherübersetzung. Alle wissen, was damit gemeint ist, obwohl in dem Satz nichts von Sex oder Fortpflanzung gesagt wird. Im Text für heute geht es aber nicht um Sex, sondern um ein anderes Tabuthema. Welches Thema das ist, verrät uns der Prediger Kohelet gleich am Anfang:

1 Denk an deinen Gott, der dich geschaffen hat! Denk an ihn in deiner Jugend, bevor die Tage kommen, die so beschwerlich sind! Denn wenn du alt geworden bist, kommen die Jahre, die dir gar nicht gefallen werden.

2 Dann wird sich die Sonne verfinstern, das Licht von Mond und Sternen schwinden. Dann werden die dunklen Wolken aufziehen, wie sie nach jedem Regen wiederkehren.

3 Wenn der Mensch alt geworden ist, zittern die Wächter des Hauses und krümmen sich die starken Männer. Die Müllerinnen stellen die Arbeit ein, weil nur noch wenige übrig geblieben sind. Die Frauen, die durch die Fenster schauen, erkennen nur noch dunkle Schatten.

4 Die beiden Türen, die zur Straße führen, werden auch schon geschlossen. Und das Geräusch der Mühle wird leiser, bis es in Vogelgezwitscher übergeht und der Gesang bald ganz verstummt.

5 Wenn der Weg ansteigt, fürchtet man sich. Jedes Hindernis unterwegs bereitet Schrecken. Wenn schließlich der Mandelbaum blüht, die Heuschrecke sich hinschleppt und die Frucht der Kaper aufplatzt: Dann geht der Mensch in sein ewiges Haus, und auf der Straße stimmt man die Totenklage an.

6 Denk an deinen Gott, der dich geschaffen hat, bevor die silberne Schnur zerreißt und die goldene Schale zerbricht –bevor der Krug am Brunnen zerschellt und das Schöpfrad in den Schacht stürzt.

7 Dann kehrt der Staub zur Erde zurück, aus dem der Mensch gemacht ist. Und der Lebensatem kehrt zu Gott zurück, der ihn gegeben hat.

Kohelet spricht vom Altwerden. Altwerden ist kein Zuckerschlecken. Dazu gehört nämlich, dass der Körper nicht mehr so fit ist wie früher. Das ist nicht schön, darum benutzt Kohelet auch Euphemismen. Er umschreibt die Beschwerden poetisch. Vielleicht wussten damals auch alle, was er damit meinte. Heute sind seine Umschreibungen nicht mehr gängig. Mit „die Wächter des Hauses zittern“ meint er, dass die Hände zittrig werden. „Die starken Männer krümmen sich“ damit sind die Beine gemeint. „Die Müllerinnen stellen die Arbeit ein, weil nur noch wenige übrig sind“ meint die Zähne. „Die Türen zur Straße“ sind die Ohren, „das Geräusch der Mühle“ ist die Stimme. „Wenn der Mandelbaum blüht“ meint das Ergrauen der Haare und „die Frucht der Kaper platzt“ umschreibt das Ende der Sexualität.

Tja, das sind nun wirklich keine tollen Aussichten. Darum schrieb Joachim Fuchsberger ja auch sein Buch „Alt werden ist nichts für Feiglinge“. Und Vicco von Bülow, allen bekannt als Loriot, sagte mal „Kaum geboren ist man schon 80“. Die Zeit vergeht eben schneller, als man so denkt.

Darum gibt Kohelet allen den guten Rat, die Zeit zu genießen, solange es geht. Er sagt übrigens nicht, dass im Alter alle Tage schlecht sind. Auch hochbetagt ist der Mensch noch zu Genuss fähig. Und das sollte sich auch niemand nehmen lassen!

Kohelet sagt uns, dass das Leben ein Geschenk ist. Gottes Geschenk an uns. Für die guten Zeiten sollen wir Gott dankbar sein. Es werden nämlich schwere Zeiten kommen. Das ist ganz unvermeidlich. In diesen schweren Zeiten ist Gott auch für uns da. Er kennt uns. Er weiß, wann es uns schlecht geht. Seine Türen zur Straße, Verzeihung, seine Ohren sind immer für uns offen. Er hört nicht nur unseren Dank, sondern auch unsere Klage. Selbst wenn das Geräusch der Mühle leiser wird. Er sieht uns ins Herz. Darum brauchen wir vor Gott auch keine Euphemismen zu nutzen. Wir können ihm geradeheraus sagen, was uns bedrückt. Er ist für uns da. Immer. Bis wir ins Gras beißen und sogar darüber hinaus.