HimmelsAnker Nr. 82 vom 19.09.21

Die „Vertreibung“ aus dem Paradies: Was haben wir daraus gemacht?

Mit der Geschichte von Eva und Adam und ihrer „Vertreibung“ aus dem Paradies will uns die Bibel erzählen: Wir Menschen sind eigentlich nackt, schutzlos. Wir wissen nicht viel.
Wir haben nicht viel. Wir sind verletzbar. Alles scheint möglich, alles ist offen. Es gibt keine Sicherheit. Die Angst gehört zu unserem Leben.

Am Ende dieser Geschichte sagt Gott zum Menschen:
„Geht. Lebt euer Leben. Geht in euer Leben. Nehmt euch euer Leben!“

Und Eva und Adam gehen. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Sie kommen zur Welt.

Wie ist es Adam und Eva ergangen?
Oder anders: Was ist aus uns geworden?

Der Versuch und das Angebot einer möglichen Antwort:

In einer großen Stadt steht eine Kirche. Ihre Türme zeigen in den Himmel und ihre Tür überragt jeden Menschen. Die Fenster leuchten und Kunstschätze locken Besucher und Besucherinnen an.
Wenn man die Kirche umrundet, kommt man zu einer zweiten Tür. Sie ist klein. Jemand hat ein Schild angebracht. „Jesus“ steht darauf, „Experte für's Scheitern“. Seltsamer Titel. Du trittst ein.

„Guten Tag“, sagst du, nachdem du dich an das Dämmerlicht gewöhnt hast und einen Mann erkennst. Er trägt eine große Wunde an der Seite und lacht. Du deutest auf das rote Fleisch: „Tut das nicht weh?“
„Doch, doch“, nickt der Mann, „aber es heilt.“
„Was haben Sie getan?“
„Ich bin gescheitert“, antwortet er.
„Oh. Das tut mir leid.“ Dir fällt das Schild wieder ein: „Deshalb der Titel?“
Der Mann nickt.
„Ehrlich gesagt sollten Sie vielleicht lieber ein Büro für's „Gelingen“ aufmachen. Das spricht die Leute sicher mehr an.“
Anstelle einer Antwort fragt er: „Bist du schon mal gescheitert?“

Du denkst nach: Du hast eine Liebe verloren, du standest an einem Grab. Du hast eine Kündigung unterschrieben, bist aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen, hast Weihnachtskekse anbrennen lassen und Wäsche verfärbt. Dein Studienabschluss entsprach nicht den Erwartungen – deinen nicht oder nicht denen der anderen. Du hast dein Kind enttäuscht. Du hast dich selbst enttäuscht. Du hast ein paar Hoffnungen begraben, einen Geburtstag vergessen und Blumen vertrocknen lassen. Beim Hochsprung hast du die Latte gerissen, nicht gewonnen, was du gewinnen wolltest. Du bist mit 50 nicht der gewesen, den du dir einst vorgestellt hast zu sein. Du hast falsche oder gar keine Worte gefunden, du hast ein paar Fünfen geschrieben und bist einmal durch eine Prüfung gerasselt. Du hast dir Dinge vorgenommen, die du nicht erreicht hast, manche nicht, obwohl du dich angestrengt hast, manche waren deiner Trägheit unterlegen.
Aber du stehst hier und lebst. Du bist an vielen kleinen Dingen, aber nicht am Leben gescheitert.

„Ob ich schon mal gescheitert bin? Ja. Nein. Was ist Scheitern?“
„Gescheiter werden“, gibt er zur Antwort.
„Jetzt beschönigen Sie aber.“
„Warum sollte ich“, sagt er. „Hast du als Kind laufen gelernt? Fahrradfahren?“
„Ja klar“, sage ich.
„Und? Wie hast du das gemacht?“
„Ich bin hingefallen und wieder aufgestanden. Ich habe den Dreck abgeschüttelt und weitergemacht. Manchmal habe ich geweint. Weil es wehtat oder weil ich wütend war, dass es nicht so klappte, wie ich wollte.“
„Und dann?“
„Und dann hat mich jemand getröstet.“
„Weil du deine Wunde gezeigt hast. Ich zeige auch meine Wunde.“
„Damit dich jemand tröstet?“
„Damit mich jemand tröstet. Damit jemand Mut fasst. Damit er oder sie weiß: ich bin nicht allein, bin nicht die Einzige, die verletzt wurde oder dem etwas nicht gelingt. Scheitern ist keine Schande.“
„Aber eine Wunde macht doch Angst.“
Der Mann wiegt den Kopf. „Sie zeigt, dass die Welt keine Helden oder Heldinnen braucht. Sie zeigt, dass man sich einsetzen kann für alles im Leben. Dass ein Versuch tausend Mal mehr Wert ist als Unversehrtheit. Jede Wunde zeigt: Du hast mitgemacht. Jedes Scheitern heißt: Du hast es versucht.“
 
„Aber Scheitern, das kann doch auch schlicht auf Dummheit beruhen. Auf Ignoranz“, fällt mir ein.
„Dann lerne. Versuch es noch einmal. Solange du lebst, hast du täglich eine neue Chance. Hinter jedem Scheitern steht ein „Und“. Ein „Und weiter.“ Die Geschichte ist nicht zu Ende. Sie kann eine unerwartete Wendung nehmen.“

Er hält einen Moment inne. „Deshalb sitze ich hier.“