HimmelsAnker Nr. 94 vom 12.12.21

HimmelsAnker zum 3. Advent

Eine kleine Phantasie zu Zeiten vor der Corona-Pandemie. Hätte das so vorkommen können? Machen Sie sich selbst ein Bild:

Das Krippenspiel ist vorbei. Und es ist gut gelaufen. Eigentlich sogar noch besser als erwartet. Die Zeit der Proben hat sich gelohnt.
„Jetzt noch schnell ein paar vertiefende Gedanken. Die müssen einfach sein!“ - denkt sich Pastorin Seligmann. „Sonst ist das für Heiligabend zu wenig.“

Sie steigt auf die Kanzel und lässt ihren Blick durch die voll besetzte Kirche schweifen.
Die Menschen schauen zu ihr auf. Das müssen sie auch, weil die Kanzel so weit oben ist. Die Pastorin blickt in die Gesichter unter sich. Etliche sind ihr bekannt und vertraut. Sie freut sich, sie zu sehen. Und einige Gesichter sind neu. Menschen, die nicht so häufig kommen. Aber heute sind sie hier. Schön. Pastorin Seligmann eröffnet klassisch:
„Liebe Gemeinde!“
Ein guter Start, denkt sie.
„Also: Liebe Gemeinde!“
Ja, das ist in Ordnung, sagt sie zu sich selbst. Wiederholungen machen deutlich, was wichtig ist. Aber sie will die Geduld der Besuchenden nicht überstrapazieren. Die warten doch was!
Pastorin Seligmann kneift sich in den Handrücken.
Reiß dich zusammen, sagt sie zu sich selbst. Sie muss jetzt loslegen, um Kontakt zu den Menschen zu bekommen. Also los:
„Schwestern und Brüder! Gerade haben wir dieses wunderschöne Krippenspiel gesehen. Und ich möchte mich an dieser Stelle noch einmal ganz herzlich bedanken bei all den Kindern, die mitgespielt haben. Und ich bedanke mich auch bei den Eltern, die ihre Kinder zur Probe gefahren haben. Bei den anderen Eltern, die die Kostüme für die Kinder genäht haben. Und besonders bei den Eltern, die gefahren und für die Kinder genäht haben.
Und bei Johannes, der immer das Kissen für Nathalie mitgebracht hat!“

Jetzt läuft's! Frohlockt sie innerlich.

„Und nicht zu vergessen, die Väter, die die Krippe gebaut haben und die Strohballen hereingetragen haben.“

Hoffentlich habe ich jetzt niemanden vergessen – denkt sie bei sich. Aber diesen Gedanken hätte sie ruhig auch sagen können. Wäre ja schließlich authentisch. Ob sie es noch nachholen kann?

„Und hoffentlich habe ich jetzt niemanden vergessen“, sagt sie. „Wie auch immer.“

Wie auch immer?! Das war jetzt aber keine glückliche Überleitung. Wenn nur diese innere Zensur endlich mal die Klappe halten könnte! Also ... anknüpfen, weitermachen.

„Wir haben diese schöne Krippe gesehen. Und ich hoffe, dass Sie und Ihr die Kinder auch hören konnten. Besonders die Kleinen waren ja wieder sehr leise. Dabei haben wir so schön geübt. Mikrofone, ja, oder noch besser: Headsets, die wären eine große Hilfe. Aber so was gibt es in unserer Gemeinde ja nicht. Wir investieren ja in den Erhalt von Gebäuden. Und nicht in unsere Gruppen …“

Was redet sie denn da? Mit einem Mal ist sie dankbar für die innere Warnung. Ist sie denn jetzt total übergeschnappt? Sie sieht nach unten. Die Menschen schauen gebannt zu ihr hoch. Die meisten jedenfalls. Einige haben jedoch das Gesangbuch in die Hand genommen und suchen schon mal nach dem Lied, das nach der Predigt gesungen wird.
Eigentlich ist alles wie immer. Vielleicht hat sie das mit den Mikrophonen nur gedacht. Das wäre gut. Und wenn sie ehrlich ist: Ihre Stimme wäre auch zu leise, wenn sie ohne Mikro sprechen würde. Aber darum geht es jetzt ja gar nicht. Es geht um das Krippenspiel.
Also weiter...

„Beinahe, liebe Gemeinde – und das will ich vorweg an dieser Stelle mal sagen – beinahe hätte das Krippenspiel gar nicht stattfinden können. Da war nämlich ein Mädchen – das war die Peggy – die hat bei den ersten Proben immer nur so dumme Sachen über Flüchtlinge gesagt. Vorurteile. Richtig fiese Sätze. Dabei war Jesus selbst ein Flüchtlingskind! Jedenfalls bin ich froh, dass das Mädchen dann nicht mehr mitmachen konnte, weil sie mit ihren Eltern weggezogen ist. Ich glaube nach Dresden. Hat sich bei mir aber nicht abgemeldet. Ich wusste das nicht. Und als ich bei der dritten Probe fragte: Ist Peggy da? Da war sie weg.  Und ich hoffe, dass ihr in Sachsen auch niemand zuhört.
Aber das wollte ich ja eigentlich alles gar nicht erzählen. Ist ja Ihre und Eure Zeit. Es geht ja um unser Krippenspiel. Und dass es schön war. Ja.
Also: Die Nathalie, die hat ja die Maria gespielt. Darum hatte sie auch ein Kissen unter dem Pullover. Nein, nicht die Maria. Die hatte ja ein Baby im Bauch. Und die Nathalie ein Kissen. Damit das dann so aussieht, wie wenn … als ob … obwohl sie ja gar nicht mit Josef … also die beiden waren ja praktisch … und dann kam ein Engel dazwischen … und jedenfalls wurde Maria schwanger.“

Warum druckst sie denn jetzt so rum? Jetzt schauen sogar die Konfis zu ihr hoch.
Und zwei Frauen aus dem Seniorenkreis schütteln ganz leicht ihre Köpfe. In einer Tour.
Was soll das jetzt wieder?  Hat denen noch niemand gesagt, wie irritierend das ist? Weiter!

„Und der Johannes, der hat den Josef gespielt. Johannes ist übrigens auch ein Name aus der Bibel – aber das jetzt nur nebenbei. Der Josef war der Mann von der Maria. Das heißt nicht ganz. Sie waren nur verlobt. Und das Kissen … äh, das Kind, das war nicht von ihm.
Das Kissen ist von Johannes. Aber das habe ich ja vorhin schon gesagt. Das Kind von Nathalie jedenfalls ist von Gott.“

Jetzt hat Pastorin Seligmann die volle Aufmerksamkeit der Gemeinde, das spürt sie.

„Jedenfalls mussten die beiden nach Betlehem. Weil der Kaiser das so wollte. Der Kaiser hat allerdings in unserer Aufführung nicht mitgespielt.  Seine Rolle in dieser Geschichte ist zu klein, die wollte niemand haben. Darum hat auch die Mama von Nathalie diesen Satz gelesen. Dass alle sich schätzen lassen sollten.“

Ich schätze mal, das geht nicht gut! - meldet sich ihre innere Stimme.

„Jedenfalls ist der Johannes mit seinem Schatz nach Betlehem gelaufen.
Und an dieser Stelle möchte ich mich mal kurz eben dafür bedanken, dass niemand fotografiert hat. Das stört immer so, finde ich. Und außerdem: Man weiß ja nicht, was mit solchen Fotos alles angestellt wird. Und das will ja auch keiner. Jedenfalls sind der Johannes und die Nathalie dann nach Betlehem rüber. Das war bei uns vorne am Altar. Da ist Betlehem. Also, nicht der ganze Ort. Der ist zwar klein, aber so klein … Egal. Die Strohballen sollen zeigen, dass da ein Stall ist. Und in einem Stall, da gibt es eigentlich auch Tiere. Zum Beispiel einen Ochsen und einen Esel. Die hatten wir aber nicht, wie ihr gesehen habt. Also ihr habt gesehen, dass wir die nicht hatten, wollte ich sagen.
Das lag daran, dass keiner den Ochsen spielen wollte. Und einen Esel auch nicht. Sören und Adrian wollten Tiere sein, aber dann nur King Kong und Godzilla. Da haben wir uns entschieden, wir machen es ohne Tiere. Ja, und in dem Stall waren sie, weil die bösen Gastwirte für Johannes und Nathalie kein Hotelzimmer hatten. Und weil das alle so fies fanden, wollte auch keiner einen Gastwirt spielen. Na ja, und weil unsere Kirche so klein ist, mussten wir die Szene mit den Hirten und den Engeln ebenfalls vorne am Altar spielen.
Aber ich denke, das ist klar geworden. Und dann sind die ja auch losgelaufen. Die Hirten.
Obwohl: Eigentlich mussten die gar nicht laufen, weil sie ja schon am Altar waren, also im Stall. Also hier vorne. Aber ich finde, das haben die richtig gut gemacht. Ja und dann kamen die fünf Heiligen Könige. Ja. König ist eine von den beliebteren Rollen.
Und die hatten auch Geschenke. Gold, Weihrauch und Myrrhe. Und nicht Möhren, wie Jessica gesagt hatte.
Zum Schlussbild kamen dann noch mal alle zusammen. Aber das haben ja alle gesehen.
Ja, und das wollte ich euch und Ihnen einfach mal erzählen. Weil ich auch wichtig finde, dass man versteht, was Weihnachten so bedeutet.

„Merkst du eigentlich was?“ Schon wieder diese innere Stimme. Die Menschen freuen sich.
Einige haben bei deiner Predigt sogar gelacht. Verstehst du? Du hast ihnen etwas Weihnachtsfreude geschenkt! Das tut gut in diesen Zeiten! Das ist zwar nicht alles, was Weihnachten ausmacht. Aber wichtig ist es in diesen Zeiten allemal!
„Weißt du was, Agathe Seligmann? Sag jetzt einfach Amen.“

„Amen."