HimmelsAnker Nr. 103 vom 13.02.22

Liebe Gemeinde -  und heute mal extra: Liebe Konfis!

 

Vor dem Gottesdienst habe ich euch Papier und Stift in die Hand gegeben, damit ihr – anonym – aufschreiben könnt, was euch an diesem Gottesdienst gefallen hat beziehungsweise, was euch absolut nicht gefallen hat. Oder ob euch die Musik zusagt und die Lieder. Ich kann mir gut vorstellen, dass das so gar nicht euer Geschmack ist. Aber wer weiß? Ihr dürft auch gerne aufschreiben, was ihr stattdessen lieber hören und singen würdet.

 

Ich bin kein Hellseher, aber ich ahne, dass für die meisten von euch jetzt der wohl langweiligste Teil eines evangelischen Gottesdienstes kommt: Die Predigt!

Ich ahne das, weil mir vor Jahren mal ein Konfirmand gesagt hat: „Die Predigt ist der grausamste Teil des Gottesdienstes!“ In dieser ehrlichen Bemerkung schwingt sogar noch mit: „Und das andere war auch nicht viel besser!“

 

Tja – aber jetzt stehe ich hier – „und kann nicht anders“ - hätte ich fast gesagt. Und damit hätte ich dann den großen Martin Luther zitiert. Martin Luther soll übrigens auch gesagt haben: „Du kannst im Gottesdienst über alles reden – nur nicht über 40 Minuten!“

 

Überlegt euch mal: 40 Minuten Predigt! 40 Minuten lang redet einer über etwas, was mich möglicherweise gar nicht interessiert und trotzdem kann man nicht dazwischen reden. Wahnsinn! Selbst in Vorlesungen an der Uni kann man zwischendurch auch mal Fragen stellen.

Tja – jetzt stehe ich hier. Und soll predigen. Über eine Geschichte aus der Bibel. Über Jesus. Oder über Worte, die in den Briefen von Paulus stehen. Und immer über Gott. Und damit immer auch über meinen Glauben an Gott.

 

Eigentlich sollte ja die Vikarin Alica Baron-Opsölder hier stehen und jetzt zu euch sprechen. Es war ja auch ihre Idee, euch extra heute in die Christuskirche einzuladen, um einen Einstieg in das Thema „Gottesdienst“ zu haben. Und um eure Meinung zum Thema „Gottesdienst“ zu erfahren.

Jetzt seid ihr sicherlich enttäuscht, dass sie heute nicht kommen kann. Ich kann das gut verstehen – wäre mir in eurem Alter genauso gegangen.

 

Alica ist mehr als halb so alt wie ich. Sie denkt anders als ich. Sie redet anders als ich. Sie denkt wahrscheinlich anders über Gott als ich. Und sie ist viel viel näher an eurem Alter dran als ich und versteht euch deshalb besser.

Ich muss diesen Tatsachen ins Auge blicken: Ich gehöre zur Seniorengruppe unserer Gemeinde!

Okay, ich gucke jetzt nicht nur das ZDF-Programm, sondern streame auch die eine oder andere Serie bei Netflix und Co. Mein Musikgeschmack ist auch weit von klassischer Musik entfernt – aber RAP ist auch nicht so mein Ding. Und: Ich habe längst graue Haare!

 

Okay – ich habe einen Zopf. Den haben nicht mehr ganz so viele Männer in meinem Alter. Aber vielleicht findet ihr ältere Herren mit Zopf ja auch komisch.

Manche aus unserer Gemeinde glauben ja, der Zopf sei das Ergebnis der Corona-Pandemie und stamme aus dem ersten Lockdown, als auch die Friseure schließen mussten. Das stimmt aber nicht. So schnell wachsen Haare nun auch nicht. Ich habe sie schon eine gute Zeit vor der Entdeckung das Corona-Virus wachsen lassen.

 

Als ich in eurem Alter war, liebe Konfis, habe ich davon geträumt, lange Haare zu haben. Das hätte damals gut zu meinem Musikgeschmack gepasst. Aber ich durfte keine langen Haare haben. Meine Eltern wollten das nicht. Sie hatten damals kein Verständnis dafür, dass man als Junge lange Haare haben konnte.  Jungs mit langen Haaren kamen ihnen seltsam vor. Die waren ihnen fremd. Und fremd sollte ihnen ihr Sohn nicht werden. Und ich wollte keinen Ärger. Also hab ich habe auf meine Eltern gehört. Ich hatte immer kurze Haare. Ich habe nicht aufgemuckt, nicht rebelliert. Dazu war ich viel zu brav.

Heute ärgere ich mich über mich selbst, dass ich damals nicht mutiger war, nicht selbstbewusst genug, um meinen Bedürfnissen, meinen eigenen Interessen und Wünschen nachzugehen.

 

Warum erzähle ich euch das?

Weil ich euch und Ihnen allen sagen möchte, dass wir in unseren evangelischen Gottesdiensten hoffentlich immer Gelegenheiten eröffnen, Selbstbewusstsein zu tanken, sich  aufrichten zu lassen, sich  Mut zusprechen zu lassen, sich stark zu fühlen. Und auch mal Fehler einzugestehen und sich verzeihen zu lassen. Oder Angst zuzugeben oder träumen zu dürfen. Wünsche und Bitten zu haben genauso wie Fragen und Zweifel und Klagen. Darum geht es.

 

Und warum?

Weil Jesus das gesagt hat. Deswegen treffen wir uns ja sonntags. Weil Jesus so gelebt hat. Und Jesus hat so gelebt, weil er erfahren hat, dass es im Leben immer auch noch Gott gibt. Und dass dieser Gott alle Menschen liebt. Alle. Und dass dieser Gott nichts anderes will, als dass wir alle ein Leben führen können, das gut für uns ist, das uns und unserer eigenen Persönlichkeit entspricht. Das sagte Jesus. Das wollte Jesus mit seinem Leben zeigen, mit seinem Sterben und mit dem, was wir Auferstehung nennen. Darum geht es in einem Gottesdienst. Davon erzählen wir in einem Gottesdienst am Sonntagmorgen. Darum geht es in einer Predigt. Und das muss keine 40 Minuten dauern!

 

Übrigens: Mit meinem Zopf hole ich meine Jugend nicht nach! Das geht ja gar nicht.

Meine Frau und meine Kinder haben mich gefragt: Warum lässt du deine Haare nicht mal lang wachsen, solange es noch geht. Und auf meine Frau und auf meine Kinder höre ich auch! Amen.