HimmelsAnker Nr. 105 vom 27.02.22

Friede

Es fällt mir immer noch schwer, das zu glauben: Es ist Krieg. Nur zwei Flugstunden entfernt von uns. In der Ukraine.

„Die Russen sind einmarschiert.“ „Wir haben Angst vor den Russen.“ Solche Sätze kannte ich bisher nur aus dem Geschichtsunterricht. Oder sie begegnen mir bei Trauergesprächen, wenn die Angehörigen von damals erzählen. Wie es war, als sie aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Plötzlich gehören diese Sätze in meine Gegenwart. „Die Russen sind einmarschiert.“ Es ist Krieg.

Im Fernsehen, im Radio auf dem Smartphone: die Nachrichten. Diese unendlich vielen Nachrichten. Truppenbewegungen, Luftangriffe, Sanktionen. Draußen blitzt es. Ich zucke zusammen. Ich habe Angst. Mehr als ich zugeben will. Das da draußen waren keine Schüsse, sondern nur ein Gewitter. Der Krieg ist nicht in unserem Garten. Aber es fühlt sich fast so an.

Trotzdem kann ich es kaum glauben. Frieden war für mich immer selbstverständlich. Krieg war immer ganz weit weg oder ganz lange her. Jetzt ist er in Donezk, unserer Partnerstadt. Die Meldungen sind aktuell und nicht aus den Geschichtsbüchern. Es fällt mir schwer, diese Realität zu akzeptieren. Liegt doch auch auf der Hand, dass ich das nicht wahrhaben will, oder? Wer will schon Krieg? Wer will, dass sich Menschen gegenseitig töten? Niemand? Anscheinend nicht. Anscheinend gibt es doch Menschen, die das wollen. Diese Tatsache kann ich nicht leugnen. Und ich kann sie nicht ändern. Ich stehe hier und kann es nicht verhindern.

Das Leid, die Grausamkeit, die Ungerechtigkeit. Das alles ist in dieser Welt.
Das alles tun sich Menschen gegenseitig an. Das weiß ich, das wissen Sie, das wissen alle. Auch Gott weiß es. Er sieht das alles. Er weiß, was menschliches Leiden ist. Er hat es selbst durchgemacht. In Jesus ist Gott Mensch. Mit allem, was dazu gehört. Er setzt sich Leid, Grausamkeit und Ungerechtigkeit aus. Am eigenen Leib. Er ist mit allen, die leiden. Er ist mit den Schwachen und Unterdrückten. Er leidet mit. Er schaut nicht weg.

Kommt her zu mir, alle die ihr mühselig und beladen seid.

Das Leid wird nicht geleugnet. Von Gott nicht und auch nicht von uns. Wir sind Christen. Wir folgen Jesus. Wir sind solidarisch mit den Schwachen und Unterdrückten. Wir leiden mit.

Doch da hört es nicht auf. Die Hoffnung hört nicht auf. Gott sagt bei Jeremia:

Denn ich weiß, was ich mit euch vorhabe. Ich habe Pläne des Friedens und nicht des Unheils. Ich will euch Zukunft und Hoffnung schenken. Ihr werdet zu mir rufen. Ihr werdet kommen und zu mir beten, und ich werde euch erhören. Ihr werdet mich suchen, und ihr werdet mich finden. Ja, wenn ihr von ganzem Herzen nach mir fragt, dann lasse ich mich von euch finden.

Pläne des Friedens. Hoffnung und Zukunft. Das ist das, was Gott mit uns vorhat. Mit allen Menschen. Darum bete ich nicht dafür, dass Gott mit starker Hand eingreift und die Truppen der Besatzer niedermäht. Darum bete ich dafür, dass Gott ihre Herzen berührt. Dass sie erkennen und fühlen, welches Leid sie bringen. Denn wahrer Friede entsteht nicht dadurch, dass der eine den anderen besiegt und umbringt. Wahrer Friede ist das, was wir beim Propheten Micha lesen können: Wenn Schwerter zu Pflugscharen werden und niemand mehr für den Krieg ausgebildet wird.

Und ich weiß, dass das utopisch klingt. Ich weiß, dass das unrealistisch ist. Aber ich weiß auch, dass es anders nicht geht. Es ist der falsche Weg, stärker als der Stärkste sein zu wollen. Feuer mit Feuer zu bekämpfen. Auge um Auge lässt die Welt erblinden.

Ich weiß nicht, wie dieser Krieg zu beenden ist. Aber ich weiß, dass ich Frieden will. Und ich glaube, dass Gott Frieden will. Und ich will nicht aufhören, an Frieden zu glauben. Ich will die Hoffnung nicht aufgeben. Und darum stelle ich mich hierhin und sage, dass ich an den Frieden glaube. In der Hoffnung, dass ich damit nicht allein bin. In der Hoffnung, dass Sie mit mir hoffen. In der Hoffnung, dass Gott uns hört.

Es ist ein furchtbares Gefühl, so machtlos zu sein. Sich das alles anschauen zu müssen. Tatenlos da zu stehen. Aber das ist nicht Nichtstun. Solidarisch sein heißt nicht, nichts zu tun. Wir zeigen dadurch, dass es uns nicht egal ist, was in der Ukraine passiert. Wir zeigen, dass wir mitleiden und dieses Leid nicht dulden wollen.

Und das ist wichtig. Denn mir wird immer klarer, dass Frieden nichts Selbstverständliches ist. Frieden ist eine Herausforderung, ein Wagnis, dass immer wieder neu gewagt werden muss. Dietrich Bonhoeffer sagte es 1934 so:

„Wie wird Friede? Es gibt keinen Weg zum Frieden auf dem Weg der Sicherheit. Denn Friede muss gewagt werden, ist das eine große Wagnis, und lässt sich nie und nimmer sichern. Friede ist das Gegenteil von Sicherung. Friede heißt, sich gänzlich ausliefern dem Gebot Gottes. Kämpfe werden nicht mit Waffen gewonnen, sondern mit Gott.

Wie wird Friede? Wer ruft zum Frieden, dass die Welt es hört, zu hören gezwungen ist?, dass Völker darüber froh werden müssen? Die Stunde eilt – die Welt starrt in Waffen und furchtbar schaut das Misstrauen aus allen Augen – worauf warten wir noch? Wir wollen reden zu dieser Welt, kein halbes, sondern ein ganzes Wort, ein christliches Wort. Wir wollen beten, dass uns dieses Wort gegeben werde – heute noch.“

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen.