HimmelsAnker Nr. 56 vom 28.03.21 (Karwoche)

Der kleine Moment des Erbarmens

Folgendes geschieht vor einigen Wochen in Amerika:

Ein Mann läuft auf der Straße. Er geht von der Arbeit nach Hause. Am Straßenrand sieht er einen Jungen sitzen, etwa sieben Jahre alt. Der wirkt trostlos und hat ein Stofftier in der Hand. Der Mann spricht den Jungen an und fragt, was los ist. Der Junge sagt, dass er Hunger hat. Darum möchte er sein Stofftier gerne eintauschen gegen Geld und etwas zu essen. Der Mann überlegt nicht und nimmt den Jungen mit. Sie gehen zu einem Imbiss. Dort isst sich der Junge satt. Sein Stofftier darf er behalten. Dann ruft der Mann beim Jugendamt an. Die nehmen die Dinge jetzt in die Hand. Es sind schlimme Dinge. Der Junge aber ist erst einmal satt und bekommt jetzt ein Bett für die Nacht.

Solche Geschichten gibt es. Bestimmt mehrmals am Tag. Längst nicht alle stehen in der Zeitung oder anderen Medien. Die Welt übersieht viel oder vergisst schnell. Das Gute wird oft noch schneller vergessen als das Böse. Das Gute gilt als selbstverständlich. Was es nicht ist. Darum erzähle ich das weiter. Die Geschichte vom Jungen und vom Fremden bedeutet mir etwas. Ich erkenne darin einen kleinen Moment des Erbarmens. Vielleicht denkt sich der Mann: Du darfst jetzt nicht einfach weitergehen. Du musst den Jungen fragen. Einfach so. Kann sein, dass vorher schon viele andere vorbeigelaufen sind. In einer Stadt sitzen ja viele am Straßenrand und wollen dies und das. Manchmal sind sie laut, pöbeln einen an oder sind betrunken. Der Junge aber sitzt nur da. Mit seinem Stofftier im Arm. Manche sehen das nicht oder wollen es nicht sehen und gehen vorbei. Den einen Mann berührt das. Mehr geschieht ja eigentlich nicht.

Doch. Wenn ich genau hinsehe, ist noch mehr. Und zwar etwas Großes. Die Welt kennt kein Erbarmen. Mit nichts. In Syrien nicht und in Nordkorea nicht. Auch an vielen anderen Orten nicht. Das Leben an sich weiß nichts von einem Erbarmen.

Nur der Mensch kennt Erbarmen. Manchmal. Ein Mensch kann vorübergehen und denken: Was geht mich das an … oder ein Mensch bleibt stehen und beugt sich zu dem Jungen, empfindet etwas, ist angerührt vom verdreckten Aussehen oder einem traurigen Gesicht. Vielleicht auch vom zerschlissenen Stofftier. Und spürt das, was der Welt fremd ist: den kleinen Moment des Erbarmens, des Hinabbeugens zu einem anderen. Den Moment gibt es, weil es das Göttliche gibt. Dieses Göttliche in uns bittet uns: Geht möglichst nicht vorüber. Seht bitte hin.