HimmelsAnker Nr. 80 vom 29.08.21

Kain und Abel

Zur Freude am Leben gesellt sich oft genug die Angst. Die Angst, es könnte nicht mehr rund laufen im Leben. Was kann mich glücklich machen? Was gibt mir Sinn? Wie komme ich an Geld, um mir das leisten zu können, was mich glücklich machen könnte? Was meinem Dasein Sinn verleiht? Was muss ich dafür tun? Was muss ich dafür leisten?
Und in der biblischen Sprache: Welche Opfer muss ich bringen, um mein eigenes Leben leben zu dürfen?

Und damit sind wir bei „Kain und Abel“.
Es geht um die Angst, nur akzeptiert zu werden – von Gott, von meiner Familie, von meinen Mitmenschen, ja sogar von mir selbst – wenn ich bereit bin, Opfer zu bringen, in Vorleistung zu treten. Diese Angst muss ich beruhigen.

Am Beispiel „Kains und Abels“ erklärt uns die Bibel, was passieren kann.
Kain will seine Angst beruhigen, Abel will seine Angst beruhigen. Deswegen opfern beide das Beste, was für sie möglich ist. Aber weil sie Brüder sind, geraten sie auf dem gleichen Feld in eine absolut tödliche Konkurrenz zueinander. Aus dem besten Wollen wird in wenigen Zeilen Kain zum Mörder an seinem Bruder.
Wir haben diese Geschichte schon viele Male gehört. Und immer wieder halten wir Kain einfach für böse. Gott hat sein Opfer nicht angeschaut, weil er böse war, und dass er böse war, sieht man ja daran, dass er zum Mörder wird.
Ein Mensch, der ein Mörder wird, muss nach dieser Logik schon immer böse gewesen sein.
Man begreift mit dieser Schablone aber nicht, was die Bibel uns hier sagen will: Ein Mensch wie Kain meint es absolut gut! Er will alles richtig machen; er will für ein bisschen Anerkennung Opfer bringen. Nichts daran ist böse. Aber in dem ganzen Arrangement liegt ein Moment, das ins Böse treiben muss.

Denn neben Kain steht ein anderer. Abel, der genauso denkt wie er, und der deshalb genau dasselbe tut. Und dieser andere steht ihm so nahe wie ein Bruder dem anderen.
Und eben deshalb ist dieser andere so gefährlich. Alles, was lobenswert ist an dem Menschen neben mir, was ich an ihm lieben und anerkennen könnte, alles das wird zur Bedrohung, zur Konkurrenz, wenn ich mir meine Anerkennung, meine Akzeptanz erarbeiten muss.
Darum also geht es: Wenn wir nicht mehr glauben können, dass da eine unbedingte Liebe, eine riesengroße Güte ist, die will, dass wir da sind. Wenn wir anfangen zu glauben, wir müssen uns diese Liebe erarbeiten, dann erleben wir die Welt um uns herum als gnadenlos. Dann steht neben mir ein anderer, der hat das Ansehen, das ich dringend brauche – das ist ungerecht!

Dann ist da mein zwei Jahre älterer Bruder – und weil er der Ältere ist, steht er mir ständig im Weg, wirft ständig seinen Schatten auf mich, indem er in die Sonne tritt. Er steht immer im Glanz – und ich bin immer der zweite. Das ist ungerecht!
Oder da ist mein zwei Jahre jüngerer Bruder. Ständig kümmert sich meine Mutter nur um ihn! Er darf alles – und ich muss immer schon Verantwortung zeigen und tragen. Das ist ungerecht!

Sie verstehen, was ich sagen will: Immer ist die Welt schon auf Grund ganz natürlicher Unterschiede ungerecht. In der Angst um meine Anerkennung ist es unvermeidbar, dass die ganz natürlichen Unterschiede zwischen den Menschen sich in einen Konkurrenzkampf, manchmal auf Leben und Tod, aufschaukeln.
Was muss denn jetzt passieren, um Kain aus dieser Falle zu erlösen?
Gott spricht mit Kain. Doch leider ist es jenseits von Eden so, dass Menschen auch Gott nur noch als moralische Instanz hören und wahrnehmen: „Ja, wenn es dir gut geht, dann bist du gut. Wenn es dir mal schlecht geht, dann lauert die Sünde vor der Tür. Beherrsche deine Sünde, beherrsche deine dunklen Triebe.“ So hört es Kain.
Und er will es probieren. Und er redet mit Abel! Er versucht also wirklich, den Konflikt zu lösen! Er sucht den Dialog!

„Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, da erhob sich Kain gegen seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.“ - so übersetzt Martin Luther an dieser Stelle.
Korrekt muss es heißen: ABER als sie auf dem Feld waren....
Es geht eben nicht weiter mit : „erst reden sie … und dann bringt Kain Abel um“.
Nein, sie reden, Kain will den Konflikt lösen … aber dann explodiert es in ihm und er bringt Abel um. Er will das Gute – aber der moralische Rückstau dessen, was er gerade beherrschen soll, seine ganze Wut über die scheinbare Ungerechtigkeit der Welt bringt genau das Gegenteil hervor. Die innere Zerrissenheit ist unerträglich, und sie führt zu dem, was man nicht will.

Es ist doch oft so: Wir erleben menschliche Gesellschaften als ungerecht. Wir erleben die Natur und ihre Gewalten uns Menschen gegenüber als mitleidlos. Damit müssen wir klarkommen.
Und wir können besser damit klarkommen, wenn wir zurückfinden zu dem Vertrauen, dass mit Gott uns allen, einem jedem Menschen auf unserer Erde eine unbedingte Liebe zugewandt ist, der wir uns nicht erst erklären müssen. Wenn dieses Vertrauen in uns wieder stark wird, dann können wir durch unser Leben gehen – jeden Tag, als eine Gemeinschaft von Menschen, die einander leben lassen – mit all ihren Schwächen.