(12) Neulich ...

... bin ich in einer Zeitschrift über dieses Gedicht von Dorothea Grünzweig gestolpert:

am abend ging ich noch mal zu mutter ins heim
ich hatte etwas vergessen es war noch nicht spät
aber mutter lag schon im bett das gebiss
herausgenommen das gesicht klein schutzbedürftig
lass uns sagte ich zusammen breit aus die
  flügel beide
singen mutter hob den kopf leicht vom kissen
und sang sofort als hätte sie gewartet darauf
  dass ich käme
und mit ihr sänge sie rundete dabei den mund
er wurde zu einem ausschlupfloch für gehuderte
flügge gewordene töne die sich im zimmer
verteilten
es war ostern und lau das fenster offen doch wollten
sie scheints bei mutter verweilen die geschlagene
  nacht
ich war schon bei der tür als ich sah etwas hatte sie
anwachsen lassen versehen mit weißen schwingen
auch meine töne so kam es mir vor warn darunter
  umgaben wie hüllblätter mutters einsames
  kindliches bett.

Auf der Seite neben dem Gedicht las ich folgenden Text des Kulturbeauftragen der Ev. Kirche in Deutschland  J.H. Claussen:

„In dem nebenstehenden Gedicht zeigt sich besonders schön die sprachschöpferische Kraft des Protestantismus – aufgegriffen von einer Autorin des 21. Jahrhunderts. Es ruft einen traditionsreichen Choral (Anmerk.: von Paul Gerhardt) auf und säkularisiert ihn, ohne ihm jedoch dadurch seine poetische und religiöse Dimension zu rauben. In der Tat: Seltsam ist, wie Jesus von Gerhardt als eine himmlische Glucke, eine mütterliche Engelsgestalt dargestellt wird. In Grünzweigs Gedicht wird daraus ein Gesang, in dem himmlische und irdische Flügelwesen, Vögel und Engel, sich verbinden. Ihre Töne verlassen das Nest, den Mund, fliegen im Raum, erfüllen ihn, hüllen die Mutter ein, die wieder ein Kleinkind geworden ist, für das nun die erwachsene Tochter zu sorgen hat. Das alte, fromme Kinderbeschützlied, hier in eine alltägliche Gegenwartssituation gesetzt, verwandelt sich, und es verbinden sich Glaube, Natur, Musik, Familie. Es ist abzusehen, dass die Mutter sterben wird. Allein liegt sie da und wartet auf die geschlagene Nacht. Doch diese gemeinsam gesungenen Worte hüllen sie ein. Jetzt ist Ostern.“