(5) Neulich ...

... wurde ich während eines Trauergesprächs gefragt, ob ich etwas dagegen hätte, wenn zur Beerdigung des Vaters das Lied „You´ll never walk alone“ gespielt würde. Der Gestorbene war in seinem Leben leidenschaftlicher Fußball-Fan und verband mit diesem Gesang viele schöne Momente mit seinem Lieblings-Verein. Ich hatte überhaupt nichts dagegen! You´ll never walk alone“ - „Du wirst niemals alleine gehen“ - kann es ein schöneres Versprechen geben? Als dann das Lied nach meiner Trauerrede ertönte, stand ich da, hörte zu und erinnerte mich an folgendes Erlebnis:

Es ist Sonntag, der 13. März, frühabends. Mit meinem besten Freund Uwe und den anderen Kumpels stehe ich auf der Südtribüne – Heimspiel. BVB gegen Mainz (Die VfL-Fans hier in Bochum mögen mir verzeihen! Ich bin kein gebürtiger Bochumer und in meiner Heimatstadt Schwerte wurden mir andere Fußballfarben in die Wiege gelegt. Die legt man mit einem Wohnortwechsel nicht ab.)

Das Stadion ist ausverkauft. 81.000 Menschen verbreiten eine tolle Stimmung.

Das Spiel ist gut. Nach ungefähr zwanzig Minuten fällt mir auf, dass immer wieder Leute vor mir nach links oben schauen. Ich bin neugierig und folge ihrem Blick. Auf den Sitzplätzen in der ausgebauten Ecke an der Südtribüne ist Bewegung.  Ich erkenne viele Rettungssanitäter in Rotweiß. Und ich erkenne das typische Bewegungsmuster einer Herzdruckmassage. Es ist nicht das erste Mal, dass der Notarzt im Stadion versucht, jemanden wiederzubeleben. Bisher war es nur nicht so nah. Ich denke: Die werden ihre Sache schon gut machen und versuche, mich weiter auf das Spiel zu konzentrieren.

Irgendwann führen wir 1:0 – der Jubel ist groß! In der Kurve ist die Zahl der Sanitäter größer geworden.
Kurz vor Ende der ersten Spielhälfte gibt es aus der Kurve zaghaften Applaus. Die Sanitäter verlassen die Tribüne – sie tragen jemanden auf einer Trage.

Alles noch einmal gut gegangen – denke ich.

Anpfiff zur zweiten Halbzeit. Das Spiel ist gut – wir werden ganz sicher gewinnen.

Wenige Minuten später werde ich unruhig. Irgendetwas stimmt hier nicht. Irgendetwas ist anders. Aber was? Meine Mannschaft spielt gut, will das nächste Tor … Also: Was ist los?

Dann fällt mir auf: Es ist still im Stadion, niemand singt, niemand klatscht, alle Fahnen sind eingerollt, selbst die Mainzer Fans haben jegliche Unterstützung ihrer Mannschaft eingestellt. Wir hören sogar die Kommandos der Spieler auf dem Platz.

Aber warum?  Auch andere Menschen um uns herum werden unruhig – genau wie ich. Wir blicken uns um, in der Hoffnung, des Rätsels Lösung zu entdecken.

Ich greife zum Handy und rufe meine Schwester an. Sie sieht die Spiele des BVB live am Fernseher. Was sonst nie möglich ist – ich kann mich am Telefon während des Spiels unterhalten und erfahre, dass einer von zwei reanimierten Fans noch während des Spiels gestorben ist.

Mir und allen anderen ist sofort klar: Deswegen die Stille. Das ganze Stadion trauert.  Jeglicher Fangesang ist eingestellt. Aus Respekt vor dem Toten. In der Erkenntnis, dass es etwas viel Wichtigeres gibt als Fußball. Und das in einem Fußballstadion.

Kurz vor Schluss des Spiels bekommen wir aus Block 13 Kommandos des Vorsängers – und wie aus einem Mund singen alle mit: "You´ll never walk alone!" Du wirst niemals allein gehen. Jeder Schal wird hochgehoben. Niemand sitzt.

In diesem Moment ist dieses Lied viel mehr als ein Fangesang. Es sprengt die Dimension des Fußballstadions und wird zu einem religiösen Ausdruck von Trost, von Zusage, von der Begleitung des Gestorbenen durch etwas viel Größeres – nennen wir es ruhig Gott.

Du wirst niemals allein gehen. Egal, wohin du auch immer gehen musst, egal, wohin deine Wege dich führen werden – Gott geht mit. Du bist in keiner Sekunde allein – im Leben nicht, im Sterben nicht.
Ich weiß nicht, ob der Komponist dieses Liedes, das eigentlich einem Musical aus den 20er Jahren entstammt, das auch so gemeint hat.

Aber in diesem Moment, angesichts des Todes mitten in einem Fußballstadion, lässt der Text keine andere Deutung zu. Du wirst niemals allein gehen …

Noch heute – Jahre danach - nötigt mir diese feinfühlige Reaktion von 81.000 Menschen jeglichen Alters angesichts des Todes eines Menschen ungeheuren Respekt ab.

Diese Sensibilität vieler Menschen wünsche ich mir auch am Karfreitag – aus Respekt vor dem Tod dieses eines Mannes Jesus, der sein kurzes Leben lang in dem Bewusstsein gelebt hat: Gott lässt uns nicht allein. Gott geht mit.

Ein frommer Wunsch?

Wahrscheinlich ja. Aber dass es möglich ist, habe ich selbst erfahren.